KORRESPONDENTENBERICHTE

Wir wollen unseren Lesern unsere Korrespondenten der Reihe nach mit kurzen Beiträgen vorstellen. Über Ursula MacKenzie erschien gerade ein Beitrag in der britische Zeitschrift Guardian, den wir hier in eigener Übersetzung dokumentieren:

Unter Einfluß

Jan Moir spricht mit Ursula MacKenzie (The Guardian, 19. Oktober 1994)
Ist es Ihnen schon mal passiert? Mir passierte es beinahe, vor Jahren, als Teenager, gerade in London angekommen: Die Scientologen versuchten, mich anzuwerben. Eines Nachmittags in Tottenham Court Road wurde ich von diesen attraktiven netten Leuten vor ihrem Büro angesprochen und gefragt, ob ich an einer Gruppendiskussion teilnehmen und einen Fragebogen ausfüllen wollte. "Wie groß ist der Bogen?" fragte ich; denn Ausfüllen von Tests war schon lange meine Privatleidenschaft. Als mir versichert wurde, es handelte sich um einen Koloß von sechs Seiten, willigte ich fröhlich ein.

Wir waren ungefähr 20 und saßen, wie wild kritzelnd, an Schreibtischen in einem kleinen Raum. Nach dem Test gab es eine lange Wartepause, ein Zeitpunkt, an dem ich eigentlich abhauen wollte. Aber irgendwie schaffte ich es nicht. Dann erschien ein Mann in weißem Nylonhemd und gab mir eine leuchtende Charakterbeschreibung, dazu Faltblätter und eine Einladung zu einer Veranstaltung. Er hätte nicht charmanter sein können. Trotzdem kam mir alles schwitzig und ungemütlich und ziemlich merkwürdig vor. So gab ich einen falschen Namen an und verschwand. Das war meine erste und letzte Begegnung mit einem Kult; aber wie Ursula MacKenzie mir versicherte, war es ein typischer Fall. Ich gehörte zu der beliebtesten Zielgruppe: "Eine amerikanische Psychologin sagt, daß Kulte vorwiegend solche Leute anpeilen, die "in transit" (unterwegs) sind, buchstäblich oder im übertragenen Sinne. Viele britische Jugendliche wurden in Amerika geschnappt, während etliche "Kiwis" (Neuseeländer) und Australier in London in die Falle gerieten. Man könnte aber auch am Ende einer Beziehung stecken, oder zwischen Schule und Universität es gibt viele Situationen, in denen man vorübergehend anfällig ist und dann nach irgend etwas sucht. Die Kultleute sagen dann: "Gott hat dich zu uns geführt; denn er wollte, daß Du uns begegnest."

Frau MacKenzie ist gerade in Ruhestand getreten nach 16jähriger Arbeit für FAIR (Family, Action, Information & Rescue), einem Beratungs und Hilfsdienst für Familien und Freunde von Kultbetroffenen. Es ist keine leichte Arbeit. Auf einer Konferenz für "Cults and Counselling" (Kulte und Beratung), gehalten in der Universität Hull, wurde erwähnt, daß Britannien über 500 religiöse Kulte mit etwa 500.000 Anhängern beherbergt. In MacKenzies Dienstjahren konnte sie beobachten, wie einige Kulte einfach versickerten, während andere sich verstärkten. "Die Munies sind zur Zeit ziemlich ruhig", sagt sie in Plauderton, als ob wir Pop-Bands diskutieren. Die Divine Light Mission ist nicht mehr so landläufig, aber die London Church of Christ wirkt weiterhin anziehend. Bibelorientierte Fundamentalisten in kleinen Gruppen vermehren sich stark ("Sie sind ein großes Problem"), und New-Age-Grüppchen sprießen in allen Ecken des Landes hervor. Ihre persönliche Theorie ist, daß nach der Jahrtausendwende viele der apokalyptischen Gruppen abbrechen und verschwinden werden. "Aber es ist schwer vorauszusagen; denn mit Logik hat das alles nichts zu tun."

Sie fand den Massentod im Zusammenhang mit dem "Sonnen-Tempel-Orden" erschütternd, aber nicht überraschend. "Wo ein dominierender Anführer völligen Gehorsam verlangt, wie in den meisten Kulten, sind die Vorbedingungen für so ein Geschehen vorhanden. Letzten Endes kann niemand genau voraussagen, wohin bedingungsloser Gehorsam und Ergebenheit führen können."

MacKenzies Interesse an der Kultarbeit begann 1978, als eine Mun-Gruppe ein Haus in ihrer Nachbarschaft in Wanstead (Vorort von London) bezog und versuchte, ihre drei Teenage-Kinder anzuwerben. Ihre eigenen jungen Leute waren nicht im geringsten interessiert, aber Frau MacKenzie war sehr angerührt von Sebastian, einem jungen Spanier mit fanatischer Ergebenheit zu Mun. Durch ihn lernte sie viel über die Gruppe und wurde immer besorgter. Sie beschreibt die Mun- Bewegung als komplex und gefährlich. Ursula MacKenzie versuchte, Sebastian zu helfen, weil er "offensichtlich ein netter anständiger Junge war und weil ich wußte, daß er Vater und Mutter in Spanien hatte, die sich sehr um ihn sorgten. Ich hoffte, daß, im Falle meine Kinder in so eine Situation geraten sollten, auch jemand wie ich auftauchen und sich um sie kümmern würde."

Sie sammelte alles, was sie an Informationen über die Organisation auftreiben konnte, und wandte sich dann mit der Bitte um Verhaltensratschläge an den Erzbischof von Canterbury, zu der Zeit Dr. Coggan. Er verwies sie an FAIR, und dies führte dazu, daß sie selbst dort 14 Jahre hauptamtlich (und unbezahlt) arbeitete. "Und mein Mann hatte mich gewarnt, daß ich für soetwas zu weich wäre und es nicht lange aushalten würde!"

FAIR ist eine Hilfsorganisation für Familien und versteht sich nicht als aggressive Kreuzzügler-Organisation. Obwohl MakKenzie und viele andere FAIR-Mitglie- der Christen sind, betont sie, daß sie nicht "missionieren".

Sie kann keine Zahlen angeben im Hinblick auf Leute, denen sie beim Verlassen von Kulten geholfen hat. "Tausende?" - "Nein, so leicht ist das nicht." - "Hunderte?" - "Vielleicht. Ich weiß es nicht. Es sind eher kleine fragmentarische Erfolge als große Rettungen."

Jedes Jahr im Oktober ist in einer katholischen Kirche am Leicester Square ein offener Tag für neu in London eingetroffene Aupair-Mädchen, und jedes Jahr baut Ursula MacKenzie dort ihren Stand auf mit Stapeln von Faltblättern in sechs verschiedenen Sprachen, und sie warnt die jungen Mädchen vor Gurus und ihren Werbern und vor Leichtgläubigkeit. "Wer kann schon wissen, wieviel Eindruck man mit solcher Tätigkeit macht, und wieviel Einfluß man gewinnt," sagt sie.

Auf der anderen Seite, wer kennt den Unterschied zwischen einer Religion und einem Kult? Wer weiß, ob die Lehrsätze der katholischen Kirche besser oder schädlicher sind als z.B. die von Hare Krishna? Sie erwidert in ruhigem Ton: "Was die Leute glauben, ist in unserer Arbeit weniger maßgebend als die Methoden, mit denen sie eingefangen werden, und die Ausbeutung und Manipulation."

MacKenzie hat mehr Beschwerden von besorgten Eltern in Zusammenhang mit Scientologen bekommen als mit allen anderen Gruppen. "Sie sind ein großes Problem, sowohl hier als in Amerika."

Im großen und ganzen sieht sie FAIR's Arbeit nicht, vereinfacht ausgedrückt, als Kampf zwischen Gut und Böse. "Das wäre Kultsprache: Schwarz gegen Weiß. Einer der vielen Gründe, die wir gegen Zwangsdeprogramming haben, ist, daß Kulte alles schwarzweiß sehen: alles innerhalb der Gruppe ist wunderbar und alles außerhalb schrecklich. Es ist einfach nicht richtig, mit denselben Ideen (nur mit umgekehrten Vorzeichen) zu arbeiten. Man muß sehr sanft vorgehen, wenn man Kultleute zur Rückkehr ermutigen will. Nichts ist vollkommen gut und nichts ist vollkommen schlecht. Es gibt viele Schattierungen von Grau, und oft ist es eine Frage der Abstufung. Manche Gruppen sind bizarr, aber verhältnismdßig harmlos."

MacKenzie verläßt FAIR zu einem Zeitpunkt, an dem es unter den Kultbeobachtern Veränderungen und Ungewißheit gibt; es wird auch behauptet, daß einige Initiativen den anderen Bigotterie und Doppelzüngigkeit vorwerfen. "Dies ist großer Unsinn, und es ärgert mich sehr. Man kann ja fast denken, wir täten weiter nichts als miteinander zu streiten. Für so etwas haben wir aber gar keine Zeit. Ich habe guten Kontakt mit einigen Initiativen, mit anderen weniger. Wir zanken uns nicht, wir tauschen Erfahrungen aus und teilen Probleme. Ich weiß nicht, was hinter den Behauptungen über Auseinander- setzungen steckt." Später deutet sie an, daß die Berichte über Unfrieden auf gewisse Kultleute zurückzuführen sein könnten, die die Auseinandersetzung schüren, um die Kultbeobachter schlecht zu machen.

Ian Haworth vom Cult Information Centre sagt auch: "Dies Arbeitsfeld ist nicht ohne Schwierigkeiten." Er persönlich ist sehr kritisch im Hinblick auf INFORM (Information Network Focus on Religious Movements), gegründet in 1988 von Dr. Eileen Barker, einer Soziologin, die sich an der London School of Economics auf Neue Religionen spezialisiert hat. Ihre kühl-akademische Ausrichtung und die \berzeugung, daß längst nicht alle Kulte besorgniserregend oder schädlich sind, hat Haworth dazu gebracht, INFORM als Kult-Fürsprecher - die Moonies lieben sie richtig! - zu beschreiben, eine Behauptung, die Barker ablehnt. "Einfach nicht wahr. Wenn wir herausfinden, daß ein Kult Unrecht tut, informieren wir die Polizei, z.B. als wir hörten, daß Kultleiter Gelder zum Ankauf von Drogen benutzten. Wir studieren neue Religionen und geben objektive, akkurate Information, ohne zu preisen oder zu tadeln." Beide, Barker und Haworth sind sich aber einig in ihrem Respekt für MacKenzie, von der Barker sagt, daß sie gemäßigte Ansichten vertritt und daß sie sehr viel wichtige Arbeit geleistet hat.

Haworth hebt hervor, daß Initiativen wie Christian Research Centre und Catalyst zusammenarbeiten zum gemeinsamen Vorteil aller Kultbeobachter. Über FAIR sagt er: "Das ist eine langetablierte Organisation, die viel Gutes getan hat. Ursula MacKenzie hat all die Jahre unermüdlich für geringen Dank gearbeitet. Sie hat Erstklassiges geleistet und man wird sie sehr vermissen."

In ihrem geschmackvollen Wohnzimmer, in ein Bananenbrot beißend, kommt einem Frau MacKenzie wirklich nicht gerade fanatisch oder gar bigott vor, nicht einmal besonders fromm, einfach wie eine nette 64jährige Frau ("Ich habe nun endlich meinen freien Senioren-Bus- paß"), die einst einen Notstand entdeckte und etwas zur Abhilfe tun wollte. Sie ist freundlich, aber nicht selbstgerecht und scheinheilig, und heute trägt sie einen hübschen Schottenrock und, sehr passend, einen Pullover, bedeckt mit schwarzen Schafen.

Sie wurde in Chemnitz, unweit von Dresden, geboren und und lebte während des Krieges in Norddeutschland. Obwohl sie bereits 1955 nach London kam - sie arbeitete mit ihrer Schwester im Aufnahmebüro eines Seemannsheimes in der Victoria-Dock-Gegend - hat sie einen starken deutschen Akzent behalten. Drei Jahre nach ihrer Ankunft in London lernte sie ihren Mann kennen, damals Seemann, von der Hebrideninsel Lewis, später Polizist, und heiratete ihn. Sie haben drei Kinder und wohnen seit 30 Jahren in demselben Reihenhaus in Wanstead.

Wie die meisten Kultbeobachter hat auch MacKenzie keine speziellen Qualifikationen, aber ihre jahrelange Forschungsarbeit hat bewirkt, daß sie ein "Kultlexikon im Kopf hat".

Im Gegensatz zu einem beliebten Vorurteil, stürmt FAIR nicht durch die Welt, um Leute aus den Klauen der Kulte zu reißen. "In vieler Hinsicht könnte das gefährlich für sie sein. Wir sind zwar davon überzeugt, daß es jungen Menschen außerhalb der Kulte besser geht als innerhalb. Aber das Aussteigen muß eigener Entscheidung folgen. Ich rate Eltern immer, nicht feindselig aufzutreten, sondern zu versuchen, Verständnis zu zeigen, um damit die Verbindung mit den Kindern und ihr Vertrauen zu erhalten. Nie sollte man sagen, daß das, was sie glauben, Quatsch ist, denn sie halten es ja gerade für wunderbar."

Stattdessen bietet FAIR Informationen, Rat und Beistand, bringt Leute in Kontakt mit Agenturen im Ausland, hilft mit Rechtsberatung und gibt Auskunft über spezielle Gruppen. Bis ganz vor kurzem hatte FAIR ein Büro in Leytonstone (im Nordosten von London), das MacKenzie als einen "Erste-Hilfe-Posten" bezeichnet.

"Wir sind keine Akademiker, aber wir haben sehr viel Erfahrung. Etliche unserer Helfer hatten selbst Kinder in Kulten, und diese sind gute Gesprächspartner. Manchmal ist es ja wie bei Trauerfällen: Man läßt sie den Kummer von der Seele reden." Die Arbeit kann sehr traumatisch sein, und MacKenzie fühlte sich manchmal ganz ausgelaugt durch das Teilen von Tränen und Emotionen. Besorgte Väter fragten oft nach erprobten einfachen Rettungsregeln und waren entsetzt, wenn man sie informierte, daß es keine Patentrezepte gibt. "Es kommt ganz auf die Situation jedes Einzelnen an," erklärt MacKenzie. Sie wird ihre Arbeit vermissen, und sie bedauert nichts davon. "Es war wie es auch in der Arbeit mit Drogensüchtigen ist: Man kann nicht sagen, daß wir den Kampf gewonnen haben, aber wir haben einfach getan, was wir konnten."