Der Brief aus London

von Ursula MacKenzie
London, im Winter 1995/96

Im Herbst erhielt ich einen anonymen Brief. Der Umschlag sah, offensichtlich beabsichtigt, aus, als käme er von meiner Nachfolgerin, der jetzigen Sekretärin von FAIR. Er war sogar beim für sie zuständigen Postamt abgestempelt. Der Brief war anscheinend an die gesamte Mitgliedschaft von FAIR geschickt worden und sollte die Empfänger zunächst mal verwirren. Der Inhalt, unterzeichnet "A concer-ned member" ein besorgtes Mitglied (Mitglied wovon ??), sollte sie dann gegen FAIR aufhetzen. Nichts Ungewöhnliches, könnte man sagen. Nur für meine Nachfolgerin war es neu, zumal sie in dem Brief höchst unschmeichelhaft erwähnt wurde.

Anonyme Briefe und Desinformationskampagnen

Wir haben solche Post immer mit Verachtung gestraft und in keiner Weise darauf reagiert, selbst wenn der Absender seine Anschrift nicht verhüllt hatte. Es galt Winston Churchills alte Weisheit: "The only bad Publicity is no Publicity". Unsere Gegner hätten viel lieber negative Schlagzeilen gehabt als überhaupt keine Reaktion. Den vielen Leuten, die in regelmäßigen Abständen solche Hetzpost erhielten und nicht wußten, wie sie sich verhalten sollten, riet ich ausnahmslos, das gehässige Schriftstück in "die runde Akte" (Papierkorb) zu stecken und den Schreibern nicht die Genugtuung zu verschaffen, daß ihre Epistel auch nur den geringsten Eindruck gemacht hatte. Lediglich im Büro hatten wir eine Sammlung von all den Hetzbriefen und -artikeln.

Wenn ich mit diesen Ausführungen praktisch gegen meine eigenen Regeln verstoße, geschieht dies nur, um denen, die vielleicht zum ersten Mal das Ziel von Haßpropaganda sind, Mut zu machen. Sehen Sie das Gewäsch als ein Kompliment an! Sie haben offensichtlich etwas geschafft, sonst wären Sie nicht auserwählt worden. Wir sind der Ansicht, daß diese Leute - namentliche oder anonyme Sektenvertreter - sich nicht die Mühe machen würden, Gruppen und Einzelpersonen im ganzen Land und manchmal auch im Ausland anzuschwärzen, wenn die nicht effektiv wären. Man könnte fast behaupten, daß etwas nicht ganz stimmt, wenn Sektenexperten sich keiner einzigen Schmierkampagne gegen sie rühmen können. Dann nehmen sie offensichtlich keine klare Stellung ein und sind den Sekten gegenüber ganz unkritisch.

Oft ist in den Giftbriefen ein winziges Körnchen Wahrheit, und dann bleibt ein ebenso winziges Bißchen von dem geworfenen Dreck kleben. Aber das sollte Sie nicht beunruhigen. Sie sind in guter Gesellschaft. Je erfolgreicher und anerkannter man wird in der Sektenarbeit, desto gemeiner werden die Gegner.

Natürlich muß man aber auch sehr vorsichtig sein, damit man den Sektenschnüfflern - man kann nie genau wissen, wer da alles dazugehört - nichts in die Hände spielt. Auf alle Fälle wünsche ich allen neuen und alten Mitarbeitern im Sektenfeld, daß sie sich Hetzpropaganda nicht zu Herzen nehmen.


Ursula MacKenzie

Ursula MacKenzie, 65, stammt aus Chemnitz und lebt seit 1955 in England. Nach über 16 Jahren Arbeit für FAIR (Family, Action, Information & Rescue), die britische Elterninitiative, die zugleich Beratungs- und Hilfsdienst für Familien und Freunde von Kultbetroffenen ist. Sie lebt jetzt im Ruhestand in London und schreibt exklusiv für den BERLINER DIALOG ihre regelmäßige Kolumne.


Zurück zum Inhaltsverzeichnis