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Schöne neue Welt Der norditalienische Psychokult "Damanhur"

Bericht von Colin Goldner

"In unserem Labor arbeiten wir an Techniken zur Steuerung der Wiedergeburt. Erst unlängst konnten wir ein verstorbenes Mitglied unserer Kommune bewußt zurückrufen, es befindet sich jetzt als Kind wieder unter uns." In munterem Plauderton redet Oberto Airaudi von synchronischen Energien und astralem Bewußtsein, von kosmischen Gesetzen, Alchimie und Spagirik, vom geheimen Wissen der alten Ägypter, das das Zurückholen der Seele eines Verstorbenen zum Kinderspiel mache.

Eingangsschild Oberto Airaudi

Airaudi, 47, in Italien weithin als Wunderheiler bekannt, hatte vor über 20 Jahren seine florierende Praxis in Turin aufgegeben und war mit einem Grüppchen Gleichgesinnter in die Gegend von Ivrea gezogen, gut eine Autostunde nördlich der piemontesischen Hauptstadt. Hier, mitten in der tiefsten Provinz Norditaliens, so Airaudi, liege der Welt "bedeutendstes Zentrum der Kraft": Gleich vier der "synchronistischen Energiemeridiane", von denen die Erde wie von einem Netz pulsierender Adern umgürtet sei, liefen im Tal von Valchiusella zu einem Knotenpunkt zusammen. Frühere Generationen hätten noch direkten Zugang gehabt zu derlei geomantischem Wissen: mit Bedacht habe man etwa Pyramiden oder gotische Kathedralen exakt auf den Schnittpunkten dieser Adern errichtet, was den Bauwerken erst ihre besonderen Kräfte verlieh. Er, Airaudi, habe das "einzigartig magische Kraftareal" bei einer "Astralreise" entdeckt; zugleich sei ihm in einer Vision die Gewißheit zuteil geworden, daß dort die "Stadt des Lichtes" entstehen werde, die er schon als pubertierender Jugendlicher im Traum gesehen hatte.

Die größte esoterische Kommune der Welt

Mit finanzieller Unterstützung aus der Turiner Okkultismus-Szene wurde das "magische Areal" aufgekauft. 1975 gründete Airaudi die "spirituelle Gemeinschaft von Damanhur". Heute leben über 700 Adepten auf dem rund 185 Hektar großen Gelände. Damanhur, die "Stadt des Lichts", gilt als größte esoterische Kommune der Welt. Sie verfügt über eine straffe Organisation mit eigener Regierung, mit Gerichtswesen, Sicherheitsdienst, Feuerwehr. Vom Kindergarten bis zur eigenen "Universita`" wird die Ausbildung des Nachwuchses geregelt. Es gibt eine eigene Zeitung, einen eigenen TVSender, eigenes Geld, ja sogar eine eigene Geheimsprache.

Die Kommune lebt verstreut auf rund sechzig Häuser. Auf den wohlgepflegten Wegen begegnet man Symbolen jeder nur erdenklichen Okkult-Tradition. Vor allem Horus, altägyptischer Gott des Lichts und des Wissens, taucht in vielerlei Gestalt auf. Dazu indianische Totempfähle, keltische Thingsteine, Statuen griechischer Götter und Satyrn. Auch die Häuser sind mit esoterischen Symbolen bemalt, dazu mit allerlei Erdgeistern, Nymphen und Faunen. Dazwischen Blumenrabatten, Springbrunnen, ein kleiner Pavillon. Auf einer Anhöhe liegt der "Offene Tempel", eine Art griechischer Agora mit zwei Säulenreihen, die an der Stirnseite von einem Altar des Horus begrenzt wird. Rituale mit geheimgehaltener Bedeutung werden hier zelebriert. Außenstehende, so Airaudi, würden sowieso nicht verstehen, was da abgeht

Animalische Energien des Kosmos

Auf den ersten Blick stellt sich Damanhur dar als eher harmlose Gemeinschaft von Spinnern mit gemeinsamem Tick für mystizistische Gestaltung des Lebensalltags. Aus Lautsprechern ertönt sanft dahinplätschernde Sphärenmusik, die Menschen begegnen einander mit ätherischem Gruße: "con te" - "ich bin mit dir". Viele der Bewohner gehen einer geregelten Arbeit außerhalb nach, der Großteil allerdings ist in eigenen Betrieben tätig, in denen natürlich gefärbte Webstoffe und Naturkostlebensmittel produziert werden. Die von Damanhur entworfene und hergestellte Modebekleidung wird an Boutiquen in alle Welt versandt. Die Hälfte des Verdienstes wird an die Kommune abgeführt. Über die "normale" Arbeitszeit hinaus hat jedes Mitglied exakt vorgeschriebenen Gemeinschaftsdienst zu verrichten.

Rauchen ist den Damanhurianern streng verboten, Alkohol hingegen fließt reichlich. Um "mit der animalischen Energie des Kosmos in Einklang" zu kommen, wie Airaudi erklärt, stünden Tiere nicht nur auf dem täglichen Speiseplan, sie würden auch als Totems herangezogen: beim Eintritt in die Kommune nimmt jedes neuhinzugekommene Mitglied den Namen eines zu ihm passenden Tieres an. Damanhurianer reden einander als Jaguar, Giraffe, Frettchen, Kobra oder Oktopus an. Airaudi nannte sich einige Zeit Falke, heute läßt er sich als einziger in Damanhur mit seinem bürgerlichen Namen, Oberto, ansprechen. Auch ansonsten scheint das Animalische eine große Rolle zu spielen: Auffallend häufig ist in Airaudis Erläuterungen die Rede davon, daß dem Sexleben in Damanhur keinerlei Restriktion auferlegt sei.

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Esoterische Spiralen

Der Eintritt in die Kommune, so Airaudi, erfordere eine mehrjährige Vorbereitungszeit, während der der Aspirant Schritt für Schritt in die Geheimnisse Damanhurs eingeführt werde. Dem "Nichteingeweihten" erscheinen diese als krude Mixtur aus längst versunkenen Mysterienkulten, theosophisch-spiritistischen Welterrettungslehren und new-age-esoterischem Budenzauber. Auch die über 150 esoterischen Schriften Airaudis, verlegt in einer eigenen "Edition Horus", helfen nicht weiter.


Ein "Self"

Titel wie "Morire per Imparare" (Sterben um zu Lernen) oder "Il mistero della reincarnatione" (Das Mysterium der Wiedergeburt) bleiben ebenso unergründlich wie die Damanhur-Lehre von den "spiralenergetischen Kräften des Self". Aufbauend auf den orgodynamischen Experimenten Wilhelm Reichs mit "Lebensenergie" entwickelte Airaudi verschiedenste Spiralgebilde aus Kupferdraht, die auf "feinstofflicher Ebene" eine Reinigung von jedweder Negativität bewirken sollen. Als Arm- oder Halsbänder schützen sie den Träger angeblich vor Krankheiten, als aufwendig gestaltete, teils mit mysteriösen Glasphiolen verbundene Konstruktionen sollen sie sogar gegen Radioaktivität immunisieren. Mittels besonderer Self-Apparaturen seien Astralreisen in andere Welten möglich.

Hintergrund eines Kultführers

Oberto Airaudi stammt aus der Gegend von Turin. Die Hauptstadt Piemonts galt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Metropole des europäischen Okkultismus. Das piemonteser Herrscherhaus der Savoyer hatte die zahlreichen Kleinstaaten Italiens zu einem gemeinsamen Königreich vereint. 1861 wurde, gegen den erbitterten Widerstand des Vatikan, das Königreich Italien ausgerufen. Um den Einfluß der katholischen Kirche zu unterwandern, hatten die Savoyer in Piemont seit jeher "alternative" religiöse Bewegungen zugelassen. Nicht nur Mormonen oder Sieben-Tage-Adventisten, auch Okkultisten, Spiritisten und Mesmeristen, die andernorts in Italien streng verboten waren, fanden willkommene Aufnahme in Turin. Der Papst beschuldigte die Savoyer, "Satanisten" zu protegieren, Turin wurde zur "Stadt des Teufels" erklärt. Ende des Jahrhunderts ließ sich die "Theosophische Gesellschaft" hier nieder, deren abstruses Konstrukt aus Esoterik und rassistischen Wahnideen bis heute spürbar am Wirken ist. Auffällig sind die zahlreichen Gruppen und Grüppchen in Turin, die sich, wie ehedem die Theosophie, auf ägyptischen Okkultismus kaprizieren. Einer der Gründe hierfür liegt sicher darin, daß in Turin, noch aus Zeiten Napoleons, das größte ägyptische Museum der Welt zu finden ist.

Airaudi zeigte schon als Jugendlicher eine besondere Neigung zu Magie und Okkultismus. Im Alter von 17 Jahren veröffentlichte er sein Erstlingswerk mit dem Titel "Cronaca del Mio Suicidio" (Chronik meines Selbstmordes), ein Ansammlung reichlich morbider esoterischer Hirngespinste. Mit knapp 20 hatte er bereits eine erfolgreiche Praxis als "Pranotherapeut" aufgebaut, eine Art "Heilung durch Handauflegen". Seine "Vision" ist ein undurchschaubares Kompilat aus gnostischer Mythologie, hermetischen Geheimlehren und kryptomystizistischer Spinnerei. Die Grenze zur Psychiatrie ist fließend. Es fällt schwer, ihm zu folgen, wenn er vom "Astralbewußtsein der menschlichen Gattung" spricht, von "Mikroattraktoren" oder "Atlantischen Pentakeln".

Alldonnerstäglich hält er "Vorlesung": in stundenlangen, ohne Punkt und Komma frei vorgetragenen Auslassungen führt Airaudi seine Adepten in die tieferen Geheimnisse Damanhurs ein. Für Außenstehende macht das Ganze nicht den geringsten Sinn. Diskussion freilich ist weder vorgesehen noch erlaubt. Selbst hanebüchenster Unfug bleibt unwidersprochen stehen, gebannt hängen die Damanhurianer an den Lippen ihres "geistigen Führers". Nach offizieller Lesart der "Verfassung" Damanhurs ist dem einzelnen Kommunemitglied die Teilnahme an den "Vorlesungen" Airaudis ebenso freigestellt wie die Lektüre seiner zahllosen Bücher und Heftchen. Tatsächlich aber wird die Anwesenheit in einem extra Studienbuch genau registriert.

Unser Gott ist die Gemeinschaft

Auch ansonsten zeigen sich auffällige Diskrepanzen zwischen "Verfassung" und Wirklichkeit Damanhurs: Offiziell gibt es in der Kommune weder einen Führer noch ein geistiges Oberhaupt. "Unser Gott", wie es heißt "ist die Gemeinschaft". Esperide, eine Art Public-RelationBeauftragte der Kommune, legt größten Wert auf die Feststellung, Damanhur weise "keinerlei Sektenstruktur" auf. Im Gegenteil, es herrsche "absolute Basisdemokratie": die aus "drei geistigen Führern" bestehende "Regierung", die für "Langzeitplanung und Koordination" verantwortlich sei, werde in halbjährlichem Turnus aus allen 700 Mitgliedern neu gewählt. Auf Nachfrage stellt sich freilich heraus, daß Airaudi seit 20 Jahren bei sämtlichen "Wahlen" regelmäßig als "Regierungsmitglied" bestätigt wird. Dennoch, wie er selbst betont, habe er "nicht das Geringste gemein mit Sektengurus wie Bhagwan-Osho-Rajneesh, Shoko Asahara oder David Koresh", vielmehr verstehe er sich als "bescheidener Diener der Gemeinschaft". Airaudis unauffälliges Äußeres, sein leicht gebeugter Gang, sein im Gespräch mit Außenstehenden eher verklemmt und unsicher wirkendes Auftreten mag in der Tat solchen Eindruck erwecken, die blasiert-herablassende Art indes, in der er seinen Anhängern begegnet, spricht ebenso gegen seine Behauptung, er sei "Gleicher unter Gleichen", wie auch die ehrerbietige Haltung, die das Fußvolk Damanhurs in seiner Gegenwart einnimmt. Auch sein nagelneuer Mitsubishi Space Runner oder sein Privathubschrauber sprechen eher dagegen, ganz zu schweigen von der Traumvilla in den Bergen, die er zusammen mit engsten Vertrauten bewohnt.

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GruppeDer unterirdische Tempel

Das unterirdische Labyrinth

Unlängst erst kam ans Licht, daß der Aufbau einer autonomen Kommune nur zweckdienliches Mittel war zum wahren Anliegen der "Stadt des Lichts". Damanhur, benannt nach einer altägyptischen Stadt mit unterirdischer Tempelanlage, hat im Verlaufe von 18 Jahren selbst eine unterirdische Tempelanlage geschaffen, die in ihrer Dimension alles Vorstellbare sprengt: ein gigantischer in einen Berg getriebener Komplex von Geheimgängen, Korridoren, Kammern, Krypten und Hallen, ein über 3500 m2 großes labyrinthisches System, das, von außen durch nichts erkennbar, der Höhe eines 11-stöckigen Hauses entspricht.

Der verborgene Eingang an der Rückseite eines von Dobermann-Hunden scharfbewachten Berghofes führt zunächst in ein kleines Gewölbe, bedeckt mit ägyptisch anmutenden Hieroglyphen und Wandmalereien. Ein Gang zweigt ab, endet aber nach wenigen Metern. Kein Hinweis auf weitere Räume. Über eine Taschen-Fernbedienung öffnet Airaudi eine tonnenschwere Geheimtür mitten in einem Fresko: ein enger Korridor, bunt bemalt mit esoterischen Symbolen und Ideogrammen, verwinkelte Treppen und Abstiege. Plötzlich steht man in einem marmorverkleideten Raum, der wie eine pharaonische Grabkammer bedeckt ist mit glyphischer Darstellung ägyptischer Götter. Eine Geheimtür im Boden, nur über Fernbedienung zu öffnen, gibt den Weg frei zu einem gewundenen Korridor, der in einen kreisrunden Saal hinabführt. Dieser "Saal des Wassers" ist über und über mit Symbolen, Allegorien und Geheimzeichen bedeckt. Am Boden ein Mosaik tanzender Delphine, in einer Nische ein Altar mit leuchtender Kristallkugel. Überwölbt wird der Raum von einer Kuppel aus blauem Tiffany-Glas. Eine Geheimtür, einen Korridor weiter, öffnet sich die "Sala della Terra", geweiht dem "männlichen Prinzip". Acht Säulen, verziert mit kryptischer Symbolik, tragen eine Kuppel aus Glas in den Farben der Erde. Bombastische Fresken des "neuen Menschen" zieren die Wände. Die Ästhetik der unterirdischen Räume spiegelt die Lehre Damanhurs wider, daß jeder Mensch ein Künstler, jede Arbeit Kunst sei. Kunst, so Airaudi, entfache den Götterfunken, der jedem Menschen inne sei: neben jahrelanger Buddelei und der Bewegung von rund zwei Millionen Eimern an Abraum durfte jeder Damanhurianer sich folglich in der einen oder anderen Weise auch ausdrücklich "künstlerisch" betätigen. Das Ergebnis ist ein gleichermaßen heilloses wie faszinierendes Durcheinander unterschiedlichster Fresken, Bilder, Mosaike, Darstellungen und Symbole, deren Qualität von schierem Dilletantismus über kunsthandwerklich gefällige hin zu künstlerisch durchaus ansprechenden Arbeiten reicht. Nach endlosem Ab- und Aufstieg über geheime Durchlässe und Galerien betritt man den unvollendeten "Saal der Metalle", ausgestattet mit Kupferskulpturen und künstlich illuminierten Bleiglasfenstern mit Motiven byzantinischer Mystik.

Auch hier hat die künstlerische Selbstfreisetzung damanhurianischer Adepten ganz offenkundige Anleihe in der Tradition faschistischer Körperdarstellungen genommen. Von seiner "Vision", so Airoudi, wurde bislang erst etwa ein Zwölftel umgesetzt, letztlich soll der unterirdische "Tempel der Menschheit" eine Fläche von rund 500 000 m2 umfassen. Eine weitere Geheimtür führt in den "Raum der Sphären", ein ganz in Blattgold ausgeschlagenes Gewölbe mit acht Kristallkugeln in altarartigen Nischen. Diese Kugeln, wie Airoudi erläutert, seien mit alchemistischer Flüssigkeit gefüllt und mittels Spiraldraht aus Kupfer direkt mit den Energiemeridianen der Erde verbunden. Von hier aus könne jeder Punkt der Erde mit Lebensenergie versorgt werden.

Im Tempel des Neuen Menschen

Reinkarnationslaboratorium in der Unterwelt

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KorridorZeitmaschine Saal des Wassers

In einem angrenzenden Laboratorium werden die Reinkarnations-Experimente durchgeführt. Laut Airoudi sei es bereits mehrfach gelungen, verstorbene Mitglieder Damanhurs in Gestalt neugeborener Babies in die Gemeinschaft zurückzuholen. Ein weiteres Labor beinhaltet eine angeblich funktionierende "Zeitmaschine", die Ausflüge in Vergangenheit und Zukunft ermögliche. Die Frage nach einer praktischen Vorführung wird demonstrativ ignoriert.

Ziel der "labyrinthischen Reise ins Innere des Selbst" ist der "Saal der Spiegel": eine Art unterirdischer Dom mit quadratischer, verspiegelter Grundfläche und pyramidenförmig nach innen geneigten Spiegelwänden. In fünfzehn Metern Höhe überwölbt eine Tiffany-Glaskuppel den Raum - die größte der Welt -, zusammengesetzt aus über 82 000 Teilen. Gleichwohl der Tempel rituellen Zusammenkünften und Inszenierungen dient, scheint doch der Bau selbst das Wesentliche und Treibende der Gemeinschaft von Damanhur zu sein: die Konstruktion einer gigantischen "selfischen Energiespirale" zur "Wiedereinswerdung der Menschheit mit ihrem göttlichen Ursprung".

Die Existenz der unterirdischen Tempelanlage wurde bis vor kurzem völlig geheimgehalten - nicht einmal die Einheimischen aus Valchiusella wußten davon -, bis ein Ex-Mitglied, das mit Airaudi in Clinch geraten war, die Behörden informierte. Es wurde ein sofortiger Baustop verfügt.

Droht dem Tempel jetzt Zerstörung oder Umwandlung in eine Touristenattraktion?

Die Menschen in den Dörfern rund um Damanhur wollen mit der spirituellen Kommune in den Hügeln nicht viel zu tun haben. "Lauter Verrückte" seien das, hört man am Tresen der einzigen Kneipe im Nachbarort, auch Angst vor den Damanhurianern ist spürbar: dreizehn Sitze hätten diese bereits in den Rathäusern der umliegenden Gemeinden erobert. Auch von Säureanschlägen auf Kritiker wird gemunkelt. Unter den Einheimischen gibt es aber durchaus auch Freunde Damanhurs. Durch die Sanierung einer pleitegegangenen Käserei wurde etwa die lokale Milchwirtschaft vor dem totalen Aus bewahrt; viele Bauern hätten ohne die Großinvestition der "Verrückten" aufgeben müssen. Auch durch die Vergabe von Webaufträgen an örtliche Familien wurden neue Einkommensmöglichkeiten geschaffen. Die römisch-katholische Kirche am Orte bezichtigt Damanhur "unmoralischer und satanischer Praktiken", die Monsignore Luigi Bettazzi, Bischof der zuständigen Diözese Ivrea, auf Anfrage aber nicht zu erläutern bereit ist.

Selbst als Esoterik-Kenner steht man nach dem Besuch des Tempels ziemlich ratlos da. Sind das jetzt relativ harmlose Spinner auf der Suche nach einer besseren Welt oder ist das einer der totalitär strukturierter Psychoausbeuterkulte wie die von Ron Hubbard, Otto Mühl oder Osho Rajneesh? Ist Airaudi, entgegen aller Behauptungen, doch so etwas wie Shoko Asahara oder David Koresh?

Auch die neue Regierung in Rom ist ratlos: der zuständige Minister müsse sich erst einmal in die Sache einarbeiten. Und das dauert. Zumal, wie ruchbar geworden ist, Damanhur sich der Unterstützung der Forza Italia erfreut, rechtsgerichteter Kreise um Silvio Berlusconi.

Bis zu einem Ergebnis wirbt die "Stadt des Lichts" fleißig um neue Mitglieder; über die Kommune hinaus verfüge man weltweit bereits über mehr als 20.000 Anhänger. Auch in Deutschland wurden schon eigene Dependancen gegründet, federführend ist der Berliner Dietmar Klawitter. Zu den agilsten Werbetrommlern für Damanhur zählt der Frankfurter David Luczyn, der sich als Redakteur verschiedener Esoterikblätter einen Namen gemacht hat. Luczyn veranstaltet regelmäßig Diavorträge in Deutschland, bei denen er in die "Horusianische Philosophie" Damanhurs einführt.


Alle Fotos im Beitrag und Titelbild: Copyright Colin Goldner

Colin Goldner, klinischer Psychotherapeut, leitet das Münchener "Forum Kritische Psychologie e. V.", eine Informations- und Beratungsstelle für Therapiegeschädigte. Kürzlich hat er im Pattloch-Verlag das Kompendium "Psycho: Therapien zwischen Seriosität und Scharlatanerie" veröffentlicht. Goldner schreibt außer für den BERLINER DIALOG auch für "Psychologie heute" und "Skeptiker", die Zeitschrift der GWUP.

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