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DIALOG & APOLOGETIK

BERLINER DIALOG 14, 3-1998 - Advent

...die Tür zum schönen Paradeis
Abschiedspredigt von Detlef Bendrath

Predigt über Römer 3,21-28,
gehalten am 1. November 1998 in der St. Matthäi-Kirche zu Lübeck

"Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben. Denn es ist hier kein Unterschied: sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist. Den hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt, die früher begangen wurden in der Zeit seiner Geduld, um nun in dieser Zeit seine Gerechtigkeit zu erweisen, daß er selbst gerecht ist und gerecht macht den, der da ist aus dem Glauben an Jesus.

bendrat2.jpg - Detlef Bendrath

Detlef Bendrath

Foto: Ute Gandow

Wo bleibt nun das Rühmen? Es ist ausgeschlossen. Durch welches Gesetz? Durch das Gesetz der Werke? Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens. So halten wir nun dafür, daß der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben."

Wenn ich mich recht erinnere, war es im Jahre 1968 - ich war damals Gemeindepastor in St. Martin hier in Lübeck - aber seit 1965 auch Beauftragter für Weltanschauungsfragen im Nebenamt - da kam nach einem besorgten Anruf seiner Mutter Stephan zu mir. Er wollte alles hinter sich lassen. Er wartete ungeduldig auf den Tag, an dem er mündig wurde und damit seine Entscheidungen frei treffen konnte.
Er hatte eine Gruppe von Mun-Anhängern kennengelernt, die mit ihrem One World Crusade - einen Weltkreuzzug - damals mit Camping-Wagen durch Schleswig-Holstein zogen. Ein Missionar des neuen Messias Mun wollte er werden, eine neue Welt mit bauen, Wiedergutmachung leisten, Abzahlung an den Teufel und dafür Schule und Berufsausbildung aufgeben.

Leistungsdruck
Stephan war fasziniert von der Idee der Leistung, der vollkommenen Hingabe, die auch die Bereitschaft einschloß, für das heilige Land Korea das Leben zu opfern. Mit leuchtenden Augen erklärte er mir, daß Mun, San-Myung Gott erlöst habe, weil Mun die 5% an Leistung erbracht habe, die noch fehlten, um die 95% Gottes zu vervollkommnen. Alles, was ich zu Stephan sagte, blieb ohne Wirkung. Später erfuhr ich, er sei nun Missionar in Japan.
Jahre danach besuchte er mich wieder. Er übergab mir Bücher, Material und Aufzeichnungen und sagte: "Damit bin ich fertig! Mun ist größenwahnsinnig. Kein Mensch kann Gott erlösen. Kein Mensch kann sich selbst erlösen. Dies ist eine Religion der Leistung, ein System ohne Liebe!"
Und dann erzählte er, wodurch er das erkannt hatte. Nach einer Zeit in festen Wohngemeinschaften wurden die jungen Munies in Japan in kleinen Gruppen losgeschickt - er allein mit einer jungen Frau. Sie sprachen miteinander, auch über persönliche Empfindungen, über Sorgen und entdeckten, daß sie beide ähnliche Gedanken und Zweifel hatten. Sie erlebten, was Vertrauen, Zuneigung und Liebe ist. Sie haben beide gewagt, sich vertrauensvoll dem anderen zu öffnen und konnten so die Leistungsideologie durchschauen und durchbrechen. Beide trennten sich von der Organisation und gingen in ihre Heimat zurück.
Das ist nicht nur Annäherung an unseren Predigttext, sondern schon ein Stück Auslegung, Verdeutlichung unseres Abschnitts aus dem Römer-Brief, der ja auf den Satz zuläuft:
"So halten wir nun dafür, daß der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben."

Eine Kernstelle reformatorischen Glaubens. Erstaunlich für mich: in 36 Jahren habe ich noch nie über diesen Text gepredigt, aber doch wohl immer wieder das zur Sprache zu bringen versucht, was wir theologisch gesprochen die "Rechtfertigung des Sünders" nennen.
"Was verstehen Sie darunter?" - fragte ich neulich eine Bekannte. - "Das ist ja schlimm" - antwortete sie - "ich denke dabei, daß ich mich laufend vor Gott rechtfertigen muß." - Auf meinen Einwand: "Das Gegenteil ist gemeint, Gott macht uns gerecht" - sagte sie: "Dann müßte die Welt aber anders aussehen, wenn wir alle gerecht wären."
Liebe Gemeinde, es sind solche moralischen Vorstellungen, die uns den Zugang zu der Aussage von der Rechtfertigung des Sünders verstellen. Hier ist weder von Moral noch von Weltanschauung die Rede.
Rechtfertigung, das heißt: Gott rechnet uns Wort, Werk und Person Jesu an. Er sieht uns Sünder in Ihm - in Jesus - als Gerechte.
Nach dem biblischen Zeugnis ist unser Verhältnis zu Gott, zu uns selbst und zur Welt von Grund auf gestört. Gott heilt dies gestörte Verhältnis in Jesus Christus. Diese Rechtfertigung ist, so lange wir leben, ein ständig erneut notwendiges Ereignis. Wir leben aus dem ständigen Zuspruch der Vergebung. Wir sind in den Augen Gottes Gerechte - aber so lange wir leben sind wir auch Sünder.
Gott setzt von sich her unser Gottesverhältnis neu, das verändert unser Verhältnis zu uns selbst und zur Welt und hat neues Handeln zur Folge: Früchte des Geistes - in der Sprache der Bibel - eine neue Kreatur beginnt. Christus handelt dann in uns. So können wir anderen zum Christus werden.

Heut schleust er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis
Luther erkannte diesen befreienden Neuanfang Gottes mit uns: "Die Gerechtigkeit Gottes wird darin offenbart, wie geschrieben steht: 'Der Gerechte lebt aus dem Glauben', - da begann ich die Gerechtigkeit Gottes zu verstehen als die Gerechtigkeit, in der der Gerechte durch Gottes Geschenk lebt, und zwar aus dem Glauben, und ich fing an, zu verstehen, daß dies die Meinung ist, es werde durchs Evangelium die Gerechtigkeit Gottes offenbart, nämlich die passive, durch welche uns der barmherzige Gott gerecht macht durch den Glauben ... Hier fühlte ich mich völlig neugeboren und als wäre ich durch die geöffneten Pforten ins Paradies selbst eingetreten."
(Vorrede zu Bd. 1 der lateinischen Werke, 1545, WA 54, 185).

Die in Jesus Christus sich offenbarende Gerechtigkeit schafft den Glauben. Der Glaube ist also kein Werk. Er nimmt das an, was nicht aus uns selbst kommt, was von außen, von Gott kommt, was aber für uns geschehen ist. Annehmender, empfangender Glaube sagt: Ja, für uns, für mich ist das geschehen - und insofern rechtfertigt der Glaube. Hier geht es nicht um Leistung oder gar Leistungsdruck, hier ist keine Überforderung, sondern Freiraum, Luft zum Atmen. Jesus Christus ist Voraussetzung, Ursprung und Grund des Glaubens, gleichzeitig auch Inhalt, Gegenstand und Ziel des Glaubens.

Selbstrechtfertigung oder solus Christus
Solus Christus - Christus allein. Wenn das nicht so wäre, könnten wir unseres Heils nicht gewiß sein.
Die meisten Zeitgenossen sehen das wie wir alle wissen - nicht so, weil das gestörte Verhältnis zu Gott in ihrem Bewußtsein keine Rolle mehr spielt. Die meisten setzen auf Selbstvollendung aus eigener Kraft.
Es paßt ja zu unserem Wesen, auf Norm, Leistungssoll, Verdienst, Nachweis erfüllter Pflicht zu setzen, und das alles ist - genau wie Gesetze, die unser Zusammenleben regeln, auch erforderlich. Aber das alles hat keine Heilswirkung. Es kann auch schwerlich die Basis unseres Daseins sein. Wenn mein Selbstwertgefühl sich aufbaut auf der Überzeugung: Leiste ich was, so bin ich was - was ist dann, wenn ich nichts mehr leiste? Was ist, wenn ich krank, wenn ich arbeitslos werde, wenn ich mein Gesicht verliere, wenn ich schuldig werde, wenn ich nichts mehr bin vor den Menschen? Was rechtfertigt dann mein Dasein?
Wer nur auf sich und seine Leistung baut, den begleitet insgeheim immer die Angst um sich selbst, die ihn unfrei macht.
Der Blick auf den gekreuzigten Christus macht frei von solcher Angst. Das Kreuz Christi sagt mir: Selbst wenn ich mich von Gott und allen guten Geistern verlassen fühle und nur noch schreien möchte: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? - dann ist Gott mir im gekreuzigten und auferstandenen Christus nahe. Er spricht mir eine innere Stabilität und Zuversicht zu, die mich verwandelt und trägt.

Ablaß und Esoterik
Mich erstaunt immer wieder die Naivität, mit der die esoterischen Angebote auftreten: "Entdecke das Göttliche in dir und in anderen." "Erkenne, daß du ein Gott bist." Die Behauptung vom "heilen Menschen" ist - so scheint es - mitten in einer Welt voller Unheil nicht zu erschüttern.
Der neureligiöse Markt, die Psycho- und Esoterikszene setzt auf die Schaffung des neuen Menschen aus eigener Kraft. Daher sind dort die Angebote leistungsorientiert. Da dieser Bereich jedoch auch konsumorientiert ist, kann sich - wer die Mittel hat - auch von der persönlich zu erbringenden Anstrengung durch Geldleistung befreien. Es ist nicht mehr nötig, sich selbst oder seine Lebensgewohnheiten zu ändern, wenn der Kunde zum Beispiel Steine kaufen kann, die negative Schwingungen in positive verwandeln. "Sobald das Geld im Kasten klingt...": Tetzels Ablaß-Truhe steht heute auf Esoterik-Messen.
Liebe Gemeinde: Sinn, Gewißheit, Basis unseres Daseins, Glauben können wir nicht kaufen und auch nicht aus uns selbst heraus setzen - das bleibt angesichts solcher Erscheinungen die unaufgebbare reformatorische Botschaft. Die Kirche und ihre Verkündigung ist unverzichtbar, um ständig diese Dimension offen zu halten: Diese Welt und der Mensch leben von einer Vorgabe Gottes. Unser Dasein ist nicht aus sich selbst heraus begründbar. Wir können weder die Welt noch uns selbst heilen aus dem, was in uns ist. Die Menschenwürde, von der heute so viel die Rede ist, ist von Gott zugesprochene Würde, die darum auch besteht, wenn sie nicht oder kaum noch erkennbar ist bei Kranken, Behinderten, Alten.

Befreiung als Bescherung
Die uns von Gott geschenkte Gerechtigkeit und die damit verbundene Freiheit können nur empfangen werden. Für Luther war diese Erkenntnis wie der Eingang ins Paradies, er erlebte eine Befreiung durch den Glauben, eine Befreiung zur Tat!
Wie kann diese Tat bei uns aussehen mitten in der verwirrenden Vielfalt der religiös-weltanschaulichen Angebote unserer Zeit, aber auch angesichts der ganz gegenläufigen Strömungen des sogenannten Zeitgeistes? Da gibt es neben der neuen Religiosität eine fortschreitende Säkularisierung, neben der ausufernden Esoterik einen einseitigen Rationalismus, neben dem Individualismus die Kollektivierung und Uniformität, neben der nachlassenden Kirchlichkeit zunehmende Gemeindeneubildungen, Beliebigkeit neben Fundamentalismus.

Was glaubst denn du?
Mitten in dieser verwirrenden Vielfalt wird nach dem Profil der Kirche gefragt, die in all ihren Lebensäußerungen bezeugt, daß der Glaube an Jesus Christus gerecht macht.
Hier ist jeder von uns angesprochen: Hat unser Glaube dies Profil? Wir erleben es als kirchliche "Beauftragte für Sektenund Weltanschauungsfragen" doch immer wieder, wenn wir versuchen, christliche Positionen, auch die Lehre der Kirche zu verdeutlichen:
Zur Sache geht's eigentlich erst dann immer, wenn wir gefragt werden: Was glaubst Du selbst?
Diese Frage kann jedem Christen gestellt werden, jeder und jede sollte froh sein, wenn das geschieht. Dann zeigt sich, ob wir vom Ja Gottes leben und getragen werden. Denn als von Gott gerecht Gesprochene können wir den Menschen ohne Überheblichkeit und ohne Selbstgerechtigkeit seine Liebe bezeugen und so ideologische Verkrustungen innerhalb und außerhalb der Kirche aufbrechen.

Bescherte können schenken
Als von Gott Beschenkte stehen wir nicht mit dem Rücken zur Wand, die Hände abwehrend nach vorne gestreckt - so habe ich meinen Dienst auch nie empfunden! Wir sind von Gott begabt, etwas zu bieten. Wir vertreten weder das Gesetz noch die Leistung als Lebenssinn.
Nicht nur Stephan hat erfahren, daß menschliche Kommunikation in der Kälte des Leistungsdrucks erfriert. Durch Liebe ohne Vorbedingung, durch gegenseitige Zuwendung, durch Vertrauen hat er Befreiung erfahren. Was so im menschlichen Bereich möglich ist, kann uns bestärken, das zu leben, was wir durch Gottes Gnade sind: Von Gott angenommene Menschen, die andere annehmen können; von Gott aufgerichtete, die besonders denen helfen sollten, die dem Nihilismus nahe sind, weil ihr Eifer, sich selbst und diese Welt in Ordnung zu bringen, scheitert.
Täusche ich mich etwa, wenn ich feststelle: Immer mehr Menschen erkennen oder erahnen, wie hohl viele WohlfühlAngebote sind und wie hoffnungslos die Selbsterlösungsmodelle.
Laden wir sie doch ein: Weg aus dem individuellen und kollektiven vergeblichen Aufbruch zur Selbst-und Welterlösung in die Gemeinschaft derer, die ihr Vertrauen auf die vollzogene Erlösung setzen.
Mit der Erkenntnis des Paulus, daß der Selbstruhm zusammenbricht, verstummt ja nicht jegliches Rühmen, nicht der Dank dafür, daß Gott es gut gemacht hat mit uns, daß er unsere Verkehrtheit zurecht bringt. - Im Gegenteil. Immer wieder rühmen wir, daß er uns die Kraft des Vertrauens schenkt, die frei macht von Angst, frei von Druck, frei zur Tat.
Bezeugen wir es gemeinsam: Das alles ist erfahrbar für die, die sich sagen lassen: Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn. - Amen.


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