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BERLINER DIALOG 24-25, 1/2-2001

 BÜCHER

Psychische Zersetzung
Eine lange Reise zurück in die Zeit des Prager Frühlings 1968
von Jochen Staadt

Begriff und Vorgang dessen, was umgangssprachlich als Gehirnwäsche bezeichnet wird, sind umstritten. Eine regelrechte Kultlobby hat mit allen Mitteln bis hin zum Wissenschaftsschwindel versucht, den Terminus ebenso wie das Gemeinte pauschal als Greuelpropaganda zu erweisen. Nicht aus der Auseinandersetzung mit Psychokulten, sondern aus einem ganz anderen Bereich kommt der folgende Erfahrungsbericht über psychische Folter und Manipulation.   -Red.

Sibylle Plogstedt: Im Netz der Gedichte. Gefangen in Prag 1968. Christoph Links Verlag, Berlin 2001. 198 Seiten, 29,81 DM, 15,24 €.

Psychische Folter ist schwer nachweisbar, weil sie keine sichtbaren Spuren hinterläßt. In den Haftanstalten Sowjetrußlands wurde in den dreißiger Jahren die Methode der Gehirnwäsche erprobt. Sie gehörte zum Arsenal der "Großen Säuberungen". Die Zahl der überzeugten Parteigänger des Sozialismus, die in den dreißiger Jahren in das Mahlwerk der kommunistischen Sicherheitsapparate gerieten, geht in die Hunderttausende. Die erste Welle des Säuberungsterrors richtete sich vor allem gegen Trotzkisten und bolschewistische Intellektuelle. Wer überlebte, mußte schweigen.
In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurden im Ostblock die Methoden der Bearbeitung von politischen Häftlingen und Regimekritikern verfeinert. Die physische Folter trat in den Hintergrund, die psychische "Zersetzung"- die Zerstörung der Persönlichkeit von Dissidenten und Oppositionellen - trat an ihre Stelle. Der Schriftsteller und Psychologe Jürgen Fuchs hat bis zu seinem Tod im Jahr 1999 an Untersuchungen über derartige Zermürbungsstrategien des DDR-Staatssicherheitsdienstes gearbeitet und Opfern zu helfen versucht.
Erst nach dem Ende des real existierenden Sozialismus trat zutage, auf welch detaillierte Weise die Apparate der kommunistischen Geheimpolizei Persönlichkeitszerstörungen geplant und verwirklicht haben. Für Sibylle Plogstedt hat es dreißig Jahre gedauert, bis sie sich den Beschädigungen zuwenden konnte, die ihr in eineinhalb Jahren kommunistischer Gefängnishaft zugefügt wurden. Jürgen Fuchs gehörte zu denjenigen, die ihr zu einer persönlichen und politischen Rückbesinnung rieten.
Als Studentin und Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) erlebte Frau Plogstedt im August 1968 den Einmarsch der Russen in Prag. "Solch einen Widerstand hatte ich noch nie erlebt, keinen Moment wollte ich verpassen." Sie verliebte sich in den Unabhängigkeitskampf der Tschechen und Slowaken und in den Prager Studenten Petr Uhl. Mit ihm arbeitete sie in der trotzkistischen Untergrundorganisation "Bewegung der revolutionären Jugend", mit ihm und anderen Gruppenmitgliedern wurde sie 1969 verhaftet und eingesperrt.

Im Prager Gefängnis unterzog man sie dann der verfeinerten Sonderbehandlung, mit der Andersdenkende in kommunistischen Haftanstalten mürbe gemacht wurden. Dazu gehörte die Isolierung der politischen Häftlinge voneinander und die Verunsicherung durch Verhörspezialisten und Mithäftlinge, die der Geheimpolizei zu Diensten waren. Sibylle Plogstedt teilte ihre Prager Zelle mit einer Berufsbetrügerin, bei der offenbar durch medikamentöse Stimulation schizophrene Schübe ausgelöst wurden. Diese Frau war jedoch zwischen ihren Wahnanfällen in der Lage, die Zellengenossin in eine emotionale Bindung zu verstricken. Sie bemutterte die junge Deutsche und half ihr, die tschechischen Sprachkenntnisse zu verbessern. In Momenten der Ruhe las sie zum Trost selbstverfaßte Gedichte wie dieses:
          "Hör, mein Herz spricht,
          und wisse, es sind nicht nur Versprechen,
          daß ich ein Mensch bin, der lieben kann,
          trotz meiner Fehler."

Die Poesie schuf Nähe, die weit über das Übliche des gemeinsamen Gefangenendaseins hinausging. Intime Nähe verwandelte sich während mehrtägiger schizophrener Schübe in unvermittelte Distanz. Es ist eine Frage der Zeit, wie lange ein normaler Mensch vierundzwanzig Stunden Tag um Tag mit einem geistig Verwirrten auf engstem Raum durchhält. Sibylle Plogstedt gab nach eineinhalb Jahren auf und stimmte einer Ausweisung aus der CSSR zu. Sie empfand das als Niederlage, als Verrat an den mitgefangenen Gefährten und ihrem Geliebten.

Zurück in West-Berlin, stürzte sie sich, um Schuld- und Ohnmachtsgefühle zu überdecken, in hektische politische Betriebsamkeit. Zunächst als trotzkistische Agitatorin, was zum jähen Ende ihrer Universitätskarriere führte, weil das Kuratorium der Freien Universität Berlin 1976 ein Berufsverbot gegen die Osteuropa-Wissenschaftlerin aussprach. Danach gehörte sie zum Gründerkreis der radikal-feministischen Frauenzeitschrift "Courage" und war nach deren Einstellung als Redakteurin der sozialdemokratischen Parteizeitung "Vorwärts" beschäftigt.

Seit 1989 arbeitet sie als freie Journalistin und Autorin. Später fühlte sie sich dann frei genug, um die lange Reise zurück in die Zeit des Prager Frühlings, der Liebe und der Haft anzutreten: Nachforschungen in den Prager Archiven der Geheimpolizei, Gespräche mit den alten Gefährten, die später zur Charta 77 gehörten und heute zum Teil wichtige Ämter bekleiden, und der Besuch bei der früheren Zellengenossin. Erst durch die Wiedererscheinung der Vergangenheit konnte die Autorin das Gefängnistrauma überwinden. Ihr stilles und nachdenkliches Buch schildert diesen Prozeß der Aufarbeitung und beschreibt die Folgen der psychischen Folter. Erzählt wird "nur" die eine, eigene Opfergeschichte. Doch erst ein solch schmerzlicher Tiefenschnitt läßt verstehen, warum es vielen anderen Opfern psychischer Zersetzungsmethoden so schwerfällt, über ihre seelischen Verwundungen zu sprechen und deren Langzeitschäden zu überwinden.

Dr. Jochen Staadt, 51, promovierte 1977 mit einer Arbeit über DDR-Romane; seit 1992 Mitarbeiter im Forschungsverbund SED-Staat der FU; zahlreiche Veröffentlichungen zur Westpolitik von SED, FDJ und MfS sowie zur Alltagskultur in der DDR; des weiteren Arbeiten zur Geschichte der SDS und der Neuen Linken in der Bundesrepublik Deutschland.

Die Rezension erschien zuerst in der Rubrik "Politische Bücher" in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 11. 07. 2001.
Wir danken Autoren und Verlag für die kostenfreie Abdruckgenehmigung.


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