"Ein eigentümliches Volk" - Christentum als subversive Kultur Ein amerikanischer Evangelikaler über die zukünftige Rolle der Christen

Rezension von Kurt Kreibohm

  1. Kirchen als private Clubs
  2. Kultur, Kulturen, Subkulturen
  3. Christentum, Kultus, Kultur
  4. Verkündigen oder vergehen
  5. Evangelisierung und Apologetik
  6. Christliche Freundschaft als subversives Modell
In der Diskussion über den Rückgang der Mitgliederzahlen und den schwindenden Einfluß der Kirchen in Deutschland und Europa wird im Blick auf die Alternativen oft auf das Beispiel der Kirchen in den USA verwiesen, wo die Situation als mögliches Zukunftsmodell einer nach-volkskirchlichen Ära gewertet wird. Um so erstaunter greift man zu einem Buch, das aus US-amerikanischer Sicht schon im Titel angibt, daß auch in "God's own country" sich die Winde und Zeichen der Zeit für den sensiblen Beobachter in Richtung auf eine säkulare, multikulturelle, multireligiöse und somit "nachchristliche" Gesellschaft drehen. Nach Befragungsergebnissen in der US-amerikanischen Bevölkerung nimmt die Bereitschaft, sich in einer Kirche als Mitglied zu engagieren, ab, je jünger die befragten Personen sind.

Den Titel dieses Buches könnte man in seiner im Englischen intendierten Doppeldeutigkeit (mit Zitat eines Begriffes aus 1. Petrus 2,9: "Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, das königliche Priestertum, das heilige Volk, das Volk des Eigentums"...) so übersetzen: "Ein eigentümliches Volk - die Kirche als Kultur in einer nachchristlichen Gesellschaft":

Rodney Clapp, "A peculiar people - the Church as culture in a postchristian society" 251 S., Paperback, $ 14,99; Intervarsity press, Downers Grove, Illinois/USA 1996, ISBN 0-8308-1990-8

Der Autor stellt sich als "Evangelikaler" vor, der unter anderem Geistlicher der (anglikanischen) Episcopal Church und Mitherausgeber des Magazins "Christianity Today" war.

Seine These ist: Wir erleben am Ende dieses Jahrhunderts das endgültige Ende der konstantinischen Ära des Christentums. Die Kirche bzw. das Christentum werden für den Erhalt und die Begründung des Staates, der Gesellschaft und auch der westlichen Kultur immer weniger gefragt oder gebraucht. Die Christenheit hat an ihrer eigenen Marginalisierung, an der Privatisierung des Glaubens, an der Individualisierung der Religion und Säkularisierung der Gesellschaft, kurzum, an der Autonomie der Kultur(en) selbst mitgewirkt, von Kaiser Konstantin an. Sie hat aber heute in ihrer neuen Rolle die Aufgabe und Chance, ihre kulturstiftende Rolle als Kirche im subversiven Sinne wieder wahrzunehmen, indem sie ihre eigene Kultur als Teil der multikulturellen Gesellschaft lehrt und praktiziert; sie leistet damit einen notwendigen Beitrag zur Menschwerdung des Menschen; sie kann dabei an die Erfahrungen der ersten drei Jahrhunderte vor Konstantin anknüpfen.

Kirchen als private Clubs

Auch in den USA gibt es nach Einschätzung des Autors keine "christliche" Gesellschaft mehr, sondern nur noch einen allgemein in der "civil religion" begründeten deistischen Konsens, unter dessen Schirm sich die verschiedenen Weltanschauungen, Religionen und Denominationen ihrer Freiheit und zugleich öffentlichen Bedeutungslosigkeit erfreuen.

Die Kirchen sind nach Clapp - in ungewollt gnostischer Tradition ("privat, akulturell, ahistorisch") - nur noch "private Clubs", die für den Staat, die Gesellschaft und die Kultur irrelevant geworden sind. Die Kirchen haben oder suchen ihre Bedeutung vornehmlich in der Betreuung des Individuums. Clapp zieht eine Linie von den dem Individuum zugewandten "Mind cure"-Bewegungen Nordamerikas des 19. Jahrhunderts (mit auffallend vielen Frauen als Leitpersonen wie Mary Baker Eddy/"Christliche Wissenschaft") bis zum heutigen Psychotherapie- und Selbsthilfe-Boom. Die Privatisierung der Religion landet heute in einer Sackgasse: An die Stelle von Theologie treten Marketing und Psychotherapie. Doch diese führen das Christentum nur noch tiefer in die Impotenz und die Nutzlosigkeit hinein.

In der Tradition Karl Barths und auch unter Berufung auf Dietrich Bonhoeffer kritisiert Clapp die liberale Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts (u.a. Richard Niebuhr), die er als letzte Form konstantini- schen Denkens wertet. Die Auswirkung liberaler Theologie sieht er in dem Typus des individualisierten Konsumenten, der sich auf dem Markt den religiösen Service für seine persönlichen Bedürfnisse sucht.

Kultur, Kulturen, Subkulturen

Clapp stellt fest, daß es andererseits das monolithische Gegenüber "Kultur" in der Einzahl nicht mehr gibt und so auch nie gegeben hat, sondern eine Fülle von gleichzeitig existierenden Kulturen und Subkulturen. Die Kirche hat in der vorkonstantinischen Zeit unter der römischen Weltherrschaft eine eigene Kultur entwickelt. Eine solche eigene Kultur sollte sie heute selbstbewußt im Dialog und auch im Kontrast zur Welt neu formulieren und behaupten und damit ihre öffentliche, kulturelle, sichtbare, politische Präsenz in der Welt als eine neue Art universeller Gesellschaft zum Ausdruck bringen.

Clapp sieht Kulturkriege ("culture wars") auf die Welt zukommen. In diesen Auseinandersetzungen gehe es nicht nur um Themen wie Abtreibung, Homosexualität, die Rolle der Frauen usw., sondern um die Definition des Begriffs von Kultur überhaupt. Er selbst verwendet dabei einen weiten Begriff von Kultur, der nicht zwischen "hoher" und "niederer" Kultur unterscheidet. Er bezieht ihn in der heutigen weltweiten Informationsgesellschaft auf alle Bereiche und Aspekte des Lebens: Medien, Werbung, Informationstechnologien, Mode, Riten, Gottesdienst, Wissenschaft, öffentliche Symbole, Lebensstile und alltägliche Gegebenheiten wie Autoverkehr und Kindererziehung.

Christentum, Kultus, Kultur

In dem öffentlichen Streit über die kulturellen Maßstäbe könne sich das Christentum wieder als eigene Kultur entdecken, - als soziale und politische Größe, die erkennbar und unterscheidbar ist.

In einer Betrachtung über die Botschaft und Maßstäbe Jesu betont Clapp die grundlegende Kontinuität zwischen dem Judentum und der vorkonstantinischen Kirche, die sich weiter als das eigene oder "eigentümliche" Volk Gottes und damit gut jüdisch in einer multireligiösen Gesellschaft der Antike verstand, mit einem eigenen "Way of Life" zum Beispiel hinsichtlich Essen, Konfliktbewältigung und Selbsterhaltung. Im Zentrum dieses eigenen Way of Life stand damals und steht heute der christliche Gottesdienst.

Die Grundlage aller Kultur ist ein Kultus und somit der Gottesdienst. Clapp sieht den Gottesdienst der Kirche als die Praxis an, durch die Menschen lernen, die entscheidenden Kategorien für das Leben zu hören, zu lernen, zu erleben und umzusetzen. Es sind immaterielle, geistliche und zugleich lebensnotwendige und kulturstiftende Kategorien, die es dem Volk Gottes ermöglichen, mit der eigenen Sprache der Predigt und mit der aktiv von Laien und Klerus gestalteten Liturgie seine eigene Kultur zu entwickeln - gegen die Individualisierung und Privatisierung und auch gegen die Marginalisierung des Christentums.

Auf diesem Hintergrund geht es um die zentrale kulturstiftende Bedeutung des Gottesdienstes und - in Aufnahme eines Stichwortes aus der Orthodoxie - um die "Liturgie nach der Liturgie", im ursprünglichen Sinn der griechischen Sprache um die "Arbeit des Volkes" (= Liturgie) im Alltag.

Die Taufe zum Beispiel sei eine die Obrigkeiten aller Zeiten in Frage stellende Form zivilen Ungehorsams und gesellschaftlicher "Subversion", denn mit der Taufe gehört der Christ nicht mehr sich selbst, weder der Familie noch dem Land oder einer Nation, sondern Gott und damit zur weltweiten Christenheit, die auf eine neue Welt, das Reich Gottes zugeht.

Kulturstiftend ist auch das Sakrament des Abendmahls, die Eucharistie, in der die Christenheit sich als das Volk Gottes unter der Herrschaft Jesu in radikaler Gleichheit am Tisch des Herrn vereint: mit der christlichen Art der Konfliktbewältigung (Vergebung) und unter dem Gebot des Gewaltverzichts. "Jede Kultur lebt oder stirbt mit der Lebendigkeit ihrer Rituale und Symbole" (S. 112, übs. durch Rezensent).

Darum ist der Gottesdienst keine Weltflucht, sondern ist wirkliche Welt, in der Gott am Werk ist.

Die Alternative bestehe zwischen Sektiererei und Synkretismus. Die Kirche habe in dieser Spannung ihren eigenen Weg in der Bezeugung der Wahrheit Gottes zu finden in den Kategorien Erwählung, Exodus und Diaspora. (s. 147 ff.)

Verkündigen oder vergehen

Wenn die Kirchen weiterexistieren wollen, müssen sie Menschen als Christen gewinnen, gemäß dem Motto: "Evangelisieren oder sterben ...". Evangelisierung allerdings nicht (nur) als Verkündigung einer Botschaft, sondern auch als Einladung und Aufnahme (Initiation) in die weltverändernde Königsherrschaft Gottes. So wird der Konvertit Glied einer neuen Art von Menschen, einerneuen Menschheit oder Familie (S. 167)

Dies sei die Mission der Kirche und ihre Botschaft im Dialog mit anderen Menschen und anderen Kulturen; Evangelisierung als ehrliche Überzeugungsarbeit ohne jeden Druck, mit Offenheit über die Inhalte und Entscheidungsfreiheit für die Anderen. (S. 171)

Evangelisierung und Apologetik

Zur Frage "Evangelisierung" und "Apologetik" schlägt der Autor sieben Schritte des Dialogs mit Nichtchristen vor. Unter anderem weist er darauf hin, daß man nur aus einer praktizierenden Glaubensgemeinschaft heraus andere Menschen auf Glauben ansprechen bzw. werben könne. Zu den sieben Schritten gehöre auch der Verzicht auf jede Form von Druck oder Gewalt. Er nennt dies den Weg "einer weitergehenden Pilgerschaft des Zeugnisses". (S. 186)

Hier setzt auch der Dialog mit den "treuen Heiden" ein. Es gibt nach Karl Barth keinen säkularen Bereich in der Welt, der sich selbst überlassen oder entfernt von Gott wäre. Darum sollen Christen auch anderen Stimmen der Welt aus Religionen; Weltanschauungen und anderen Bereichen ihr Ohr leihen, um herauszuhören, ob sie nicht auch einen Teil der Wahrheit erkennen.

In unseren pluralistischen und postmodernen Zeiten leben wir nicht mehr in einer einzigen, sondern vielen kleinen Kulturen: Frauen. Männer, Homosexuelle, Heterosexuelle, Muslime, Juden, Christen, Buddhisten, Traditionalisten, Progressive, Asiaten, Afroamerikaner, Angelsachsen, Lateinamerikaner usw. - die eine Bereicherung unseres Lebens darstellen. In dem Pluralismus dieser Kulturen zeichnen sich für Christen Grenzen ab. Als für Christen nicht akzeptabel gelten z.B. kultische Götzenverehrung, Tyrannei und Folter.

Über andere Werte müsse sich die Kirche im Dialog mit ihrer jeweiligen Umgebung aber immer wieder neu verständigen; so über die Bedeutung der Familie als einer "Agentin" der Kirche im Zeugnis für die Wahrheit des Königreiches Gottes.

(Die Kirche habe aber auch die besondere und bleibende Pflicht und Verantwortung, die von ihr einmal begründeten Einrichtungen wie das Krankenhaus- und Gesundheitswesen kritisch zu begleiten und korrigieren.)

Ebenso wie für Fische die Frage sinnlos wäre, ob sie Wasser hassen oder lieben, können Christen die Kultur nicht hassen oder lieben; sie ist das Medium, aus dem man nicht entfliehen kann; es gehe schlicht um die Frage: Welche Kultur ist uns als Verantwortungsraum vorgegeben?

Die Grenzen der Kulturen sind immer in Bewegung, und auch Christen gehören selbst gleichzeitig mehreren Kulturen an. Dabei gebe es für die Wahrheitsfrage allerdings keinen neutralen Standort. Denn es existiere kein kulturloser oder kontextfreier Standpunkt, von dem man aus über eine Kultur und ihren Wahrheitsanspruch urteilen könne. "Wahrheit" lasse sich nicht objektivieren, man könne sie nur durch Partizipation erfahren.

Christliche Freundschaft als subversives Modell

Clapp schließt mit einem Kapitel über die Bedeutung der christlichen Freundschaft als einer sanktionierten Form von Subversion - als Gegenmodell zur Konsumentenhaltung und Managermentalität, die andere Menschen nur für bestimmte Zwecke einsetzt oder benutzt. Er beschreibt die herrschende Kultur, gegen die sich diese in der Kirche eingeübte zwecklose Freundschaft zwischen Christen mit den oben beschriebenen christlichen Kulturelementen wendet, als "Mass- techno-liberal-capitalism" (Massen-Technologieorientierten liberalen Kapitalismus). Aus dieser Kultur kann man und soll man zwar nicht fliehen, denn sie ist die dominierende unter vielen gleichzeitig vorhandenen Kulturen; die Kirche soll und kann sie aber mit ihrer eigenen Kultur subversiv durchdringen und verändern.

Soweit Rodney Clapps Gedanken. Anzufragen ist, ob er die Rolle und den öffentlichen, kulturstiftenden Rang der Christenheit nicht zu pessimistisch und damit zu gering einschätzt. Wenn Sonntag für Sonntag in den USA rund 40 Prozent der Menschen einen (meist christlichen) Gottesdienst besuchen, hat dies auch Auswirkungen auf die öffentliche Kultur in allen Schattierungen. Daß US-Amerikaner aus deutscher Pespektive als konservativer, schamhafter, rigoroser (Thema Rauchen und "political correctness") und zugleich gelassener, (gast)freundlicher und (in Gemeinschaften und Gruppen) engagierter als Deutsche erscheinen, hängt doch wohl auch mit ihrer starken religiösen Sozialisation und Identifikation zusammen - einschließlich der Extreme wie "Waco" und Scientology. Auch in Deutschland ist der normale Gottesdienstbesuch mit 3 bis 5 Prozent der Bevölkerung Woche für Woche höher als alle Besucherzahlen der Bundesligaspiele zusammen. Was ansonsten an "kulturstiftender" Arbeit der Kirchen durch Gottesdienst, Unterricht, Diakonie, Sozialarbeit, Gemeindeleben und Kirchenmusik erfolgt, ist sicherlich in seiner stillen, indirekten Wirkung größer, als sich die Meinungsmacher und Mediengrößen ausmalen. Man stelle sich nur einmal vor, daß diese stille, nicht immer medienwirksame Tätigkeit der Christen aus unserer Gesellschaft verschwände - der Verlust wäre immens und hätte u.a. auch eminent kostenträchtige Auswirkungen.

Anregend und überzeugend ist der theologische Entwurf Clapps, indem er in der Tradition Karl Barths die Christengemeinde als Modell für die Bürgergemeinde, die Kirche als ideales Modell für die Weltgesellschaft darstellt und dies an ihrer kulturstiftenden Praxis im Gottesdienst und im sozialen und politischen Leben deutlich macht. Er gibt damit die Richtung an, die dem gutgemeinten Slogan "Christ werden - Christ sein" die individualisierende Spitze nimmt und an die theologische Bedeutung der Kirche als lebensnotwendige Lern- und Glaubensgemeinschaft erinnert. Wenn es nicht gelingt, die Kirchen(mit)gliedschaft als zentralen Bestandteil christlicher Existenz heute überzeugend zu vermitteln, wird es in der Tat noch lange dauern, bis die Christenheit ihre neue Rolle als subversive, gewaltfreie Kulturstifterin neu wahrnimmt.

Es ist verblüffend zu sehen, wie sehr die Wahrheitsfrage und der Dialog mit Nichtchristen in diesen ekklesiologischen Kontext eingebettet sind.

Pfr. Kurt Kreibohm, 50, ist Gemeindepfarrer in Berlin-Zehlendorf