Seite 3-6 weiter Seite 7 ( 9 KB) Start-Seite 1

DIALOG & APOLOGETIK

BERLINER DIALOG 15, 4-1998 - Epiphanias

Christlicher Glaube und die Religionen
Positioneller Pluralismus als christliche Konsequenz
von Wilfried Härle

Das Christentum war in unserem Land noch nie mit so vielen Religionen, religiösen Strömungen, Richtungen und Unternehmungen konfrontiert wie heute. In einer solchen Situation stellt sich unabweisbar die Frage nach dem Verhältnis des christlichen Glaubens zu den anderen Religionen hinsichtlich der Wahrheitsgewißheit und des Wahrheitsanspruchs.

Im Rahmen einer groben Übersicht lassen sich vier Typen der Verhältnisbestimmung unterscheiden. Ich spreche von Typen, weil es davon jeweils unterschiedliche individuelle Ausprägungen gibt, deren Abweichungen voneinander sogar erheblich sein können. An die Beschreibung dieser vier Typen schließe ich jeweils gleich eine kurze kritische Würdigung an.

Foto: Dialog Center Aarhus

Dalai Lama

Typ 1: Religionen basieren gar nicht auf Wahrheit
Dieser erste Antworttypus löst das Problem der Verhältnisbestimmung, indem er es durch Bestreitung seiner Voraussetzungen zum Verschwinden bringt. Wenn es in Sachen Religion keine Wahrheit gibt, ist es überflüssig und sinnlos, unterschiedliche Wahrheiten oder Wahrheitsansprüche in Beziehung zu setzen. Dieser Typus taucht naturgemäß besonders häufig im Rahmen der Religionskritik auf, findet aber in gewissen Formen auch innerhalb der Religionsphilosophie und gelegentlich sogar am Rande der Theologie Aufnahme.
In der These, daß Religionen nicht auf Wahrheit basieren, können sich verschiedene Anschauungen Ausdruck verschaffen: z.B. die Illusionstheorie, wie sie etwa Sigmund Freud vertreten hat, oder die breite Palette sogenannter non-kognitivistischer Theorien, die besagen, daß religiöse Aussagen gar nicht wahrheitsfähig (also wahr oder falsch) sind. Von beiden Ansätzen her erscheint die Frage nach dem Verhältnis unterschiedlicher religiöser Wahrheiten oder Wahrheitssprüche als ein Scheinproblem, und der Streit zwischen den Religionen erscheint dann so sinnlos wie der Streit über unterschiedlichen Geschmack. Dabei gestehen die Vertreter dieser Theorien zu, daß religiöse Äußerungen (wie z.B. die Sätze: "Die Welt ist Gottes Schöpfung" oder: "Es gibt ein Leben nach dem Tod" oder: "Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet") wie wahrheitsfähige Aussagen klingen, in Wirklichkeit seien sie jedoch Ausdruck von Gefühlen, von Lebenseinstellungen, oder von Wunschvorstellungen.
Diese Theorien sind aus theologischer Sicht nicht völlig inakzeptabel. Sie weisen nämlich zu Recht darauf hin, daß religiöse Äußerungen sich von vielen Aussagen der Wissenschaft und der Alltagswelt in zweifacher Hinsicht unterscheiden: Sie lassen sich nicht mit experimentellen oder anderen empirischen Methoden verifizieren und - das ist besonders wichtig sie haben stets einen Bezug zur Existenz des Menschen, zu seinen Gefühlen, zu seinen Hoffnungen und Lebenseinstellungen, wie er bei den anderen Aussagen in der Regel nicht gegeben ist. Beide Unterschiede ergeben sich daraus, daß religiöse Aussagen sich auf das Ganze des Daseins beziehen. Deswegen gehen sie uns unbedingt an, sind aber nicht empirisch verifizierbar.
Trotz dieses Wahrheitselements, das im ersten Antworttypus enthalten ist, halte ich mit der weit überwiegenden Mehrzahl der Theologen diese Theorien vom Ansatz her für falsch; denn gerade der Bezug zum Gefühl, zur Lebenseinstellung oder zu der das Leben bestimmenden Hoffnung setzt voraus, daß es sich - jedenfalls nach Meinung der Betroffenen um wahre oder jedenfalls wahrscheinliche Aussagen handelt. Sie bestimmen das Lebensgefühl und die Handlungsorientierung, weil sie für verläßlich gehalten werden. Die Theorie von der Religion als einer Illusion, die für Menschen nützlich ist, weil sie z.B. tröstliche, motivierende oder disziplinierende Funktionen ausübt, ist ihrerseits nur so lange verwendbar, wie sie den Gläubigen verheimlicht wird - also als eine Art Geheimwissen einer Priesterkaste, die Religion benutzt, um Menschen zu beeinflussen und zu lenken. Einen solchen Mißbrauch gibt es zwar in allen Religionen, auch im Christentum, aber diese Theorie verfehlt das Wesen und Selbstverständnis der Religionen und ist deswegen abzulehnen.

Typ 2: Alle Religionen enthalten nur
Teilwahrheiten oder Aspekte der Wahrheit

Die überwiegende Zahl der relativistischen Theorien, die dieser These zustimmen würden, geht davon aus, daß Religionen durchaus wahre Aussagen machen, die einander aber teilweise widersprechen. Daß das so ist, begründen die relativistischen Theorien häufig mit dem Hinweis auf die Transparenz Gottes ("Deus semper maior"), die alle Religionen, ihre Wahrheitserkenntnis und Wahrheitsansprüche relativiert - was nicht heißt: falsifiziert.

Foto: Anders Blichfeld, DCI

hatayoga

Gerne wird dabei das buddhistische Bild von den Blinden herangezogen, die alle an unterschiedlichen Stellen einen Elefanten betasten (am Kopf, Ohr, Zahn, Rüssel, Rumpf, Bein etc.) und dabei zu völlig unterschiedlichen, scheinbar unvereinbaren Aussagen über das kommen, was sie betastet haben (Kessel, Schaufel, Pflugschar, Pfeiler etc.). Dabei liefert das Bild die Erklärung für diese scheinbaren Widersprüche gleich mit: Die Gegensätze entstehen dadurch, daß partikulare oder perspektivische Erkenntnisse generalisiert oder verabsolutiert werden. Darin scheint auch schon der Therapievorschlag erhalten zu sein: Akzeptiert eure Partikularität und Perspektivität sowie die Unerkennbarkeit des Ganzen, dann könnt ihr auch die partikularen Wahrheitserkenntnisse der Religionen akzeptieren und anerkennen.
Vermutlich ist diese relativistische Religionstheorie heute vielen Menschen aus dem Herzen gesprochen: Sie wirkt auch aus religiösen Gründen sympathisch bescheiden, und sie wirkt hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Konsequenzen friedensstiftend und toleranzfördernd.
Aber sie hat zwei erhebliche Schwächen: Die eine Schwäche besteht darin, daß sie genau das voraussetzt, was sie bestreitet, nämlich die Erkenntnis der Wirklichkeit Gottes im Ganzen. Das wird z.B. deutlich an dem eben genannten Beispiel von den Blinden und vom Elefanten. Man muß nur die Position dessen, der die Geschichte erzählt, mit einbeziehen. Weil er das Ganze kennt, kann er die scheinbaren Gegensätze als Teile eines Ganzen oder als unterschiedliche Perspektiven auf das Ganze zusammenschauen. Insofern setzt gerade diese Theorie, die besagt, daß keine Religion eine umfassende Erkenntnis der Wirklichkeit Gottes hat, genau diese Erkenntnis voraus, um die verschiedenen (anderen) Religionen relativieren und einander zuordnen zu können. Ohne diese unterstellte Erkenntnis des Ganzen gäbe es keinen Grund für die Annahme, die unterschiedlichen religiösen Aussagen seien Teile oder Aspekte eines Gottes und widersprächen sich gar nicht. Aber warum sollte es sich nicht um Aussagen über ganz unterschiedliche "Gottheiten" handeln?
Die zweite Schwäche der relativistischen Religionstheorie besteht m.E. darin, daß sie dem Selbstverständnis der Religionen - jedenfalls der monotheistischen Offenbarungsreligionen (also Judentum, Christentum und Islam) - nicht gerecht wird. Religion ist in diesen Religionen etwas Unbedingtes, das im Leben und Sterben Halt geben soll. Um dies zu erkennen, reicht schon der Hinweis auf die grundlegende, lebensorientierende Bedeutung der Religion, wie sie insbesondere in Problemsituationen immer wieder zum Ausdruck kommt. Religion sucht nach Gewißheit und lebt von Gewißheit. Dabei muß man sofort hinzufügen: von angefochtener Gewißheit, die vom Zweifel begleitet ist, immer wieder erhofft und errungen werden muß, aber von Wahrheitsgewißheit, an die ein Mensch sein Herz hängt und auf die er sich verläßt. Mit dem Relativismus der hier skizzierten Theorien ist dieses Selbstverständnis der Religion nur schwer vereinbar.

Typ 3: Unsere Religion ist wahr, die anderen befinden sich im Irrtum
Im Unterschied zu den relativistischen Theorien nehmen diese - ich nenne sie fundamentalistischen Theorien ihren Standpunkt ganz innerhalb der (eigenen!) Religion. Sie wollen ernst nehmen, daß Gott sich ihnen geoffenbart hat, daß sie die Wahrheit erkannt haben, und sie sehen sich deswegen genötigt, alle abweichenden religiösen Auffassungen als Irrtümer zu beurteilen.

Foto: DCI Archiv BERLINER DIALOG

hatayogf

Die Stärke dieser Theorien besteht vor allem darin, daß sie die unbedingte Geltung und Verbindlichkeit der als wahr erkannten Religion ernst nehmen wollen. Aber sie gehen von da aus zu folgender Überlegung weiter: Da es nur einen einzigen Gott geben kann, müssen sich die Aussagen aller Religionen auf ihn beziehen und an ihm messen lassen. Wenn nun aber Gott sich in der eigenen Reli gion geoffenbart, also zu erkennen gege ben hat, dann müssen alle Aussagen über Gott, die dieser Offenbarung widersprechen, falsch sein. Und ein Anhänger dieser fundamentalistischen Auffassung wird (sich) immer fragen: Warum soll ich etwas tolerieren oder gar akzeptieren, von dem ich doch weiß, daß es falsch ist? Dabei müssen die Vertreter fundamentalistischer Theorien nicht aggressiv oder gewalttätig mit den Anhängern anderer Religionen umgehen. Aber sie werden in der Regel alles tun, um die Entfaltung und Ausbreitung solcher fremdreligiöser Auffassungen zu verhindern.
Die Schwäche und Problematik dieser Position sehe ich in zwei Punkten: a) in einem Mangel an kritischer Selbstreflexion und b) in einem Mangel an Empathie bzw. Einfühlungsvermögen - wobei sich diese beiden Momente wie die Innenund die Außenseite ein und derselben Geisteshaltung oder Einstellung zueinander verhalten.
Ich will das kurz erläutern:
a) Mangel an kritischer Selbstreflexion meint die Unfähigkeit, die Geschichtlichkeit der eigenen religiösen Entwicklung und Erkenntnis wahrzunehmen und anzuerkennen, und es meint die Unfähigkeit, die eigene religiöse Position dem Zweifel und der Infragestellung auszusetzen. Vertreter fundamentalistischer Theorien sind häufig verunsicherte Menschen, die sich ihres Glaubens nicht gewiß sind und deshalb Anfragen oder auch nur konkurrierende Positionen von sich fernhalten müssen, weil sie diese als bedrohlich empfinden.
b) Mangel an Empathie bzw. Einfühlungsvermögen meint die Unfähigkeit, in Gedanken die Perspektive eines Andersdenkenden oder Andersgläubigen einzunehmen, sich zu fragen, was für ihn sein Glaube bzw. seine Religion bedeuten könnte, welche Wahrheitselemente in seiner Auffassung enthalten sein könnten und was möglicherweise für seine Religion spricht.

Aus der Sicht des christlichen Glaubens ist eine solche fundamentalistische Theorie und Einstellung nicht akzeptabel. Dies ergibt sich nicht nur aus der Universalität des göttlichen Heilswissens, der für alle Menschen, also auch für die Anhänger anderer Religionen gilt, sondern dies gilt auch in Gestalt des Gebotes der Feindesliebe, durch das uns die Zuwendung zum anderen, zum Fremden, zu dem als bedrohlich Empfundenen und Erlebten zugemutet wird. Schließlich ist auch zu erinnern an die im Neuen Testament immer wieder enthaltene Aufforderung, alles zu prüfen, und an das Zutrauen in die Selbstdurchsetzungskraft und das befreiende Potential der Wahrheit (vgl. Johannes 8,32; Römer 12,2; 2. Korinther 13,8; Epheser 5,10; Philipper 1,10 und 1. Thessalonicher 5,21). Beides läßt sich aus der Sicht des christlichen Glaubens nicht mit der fundamentalistischen Position vereinbaren.
Aber kann es - wenn man das Problem nicht wie in Typ 1 eliminieren will - überhaupt eine andere Lösung geben, als sich entweder für eine relativistische oder für eine fundamentalistische Position zu entscheiden? Der folgende vierte Theorietypus versucht jedenfalls, einen Weg jenseits dieser Alternative zu gehen.

Typ 4: Die eigene Wahrheitsgewißheit besitzt unbedingte Geltung;
fremde Wahrheitsansprüche verdienen unbedingte Achtung
Ich nenne diesen Theorietypus "positio nellen Pluralismus". Im Unterschied zu den bisher gebrauchten Bezeichnungen handelt es sich bei dieser Kennzeichnung nicht um einen eingeführten Terminus, sondern um einen Formulierungsvorschlag, den ich zur Diskussion stelle. Dabei nehme ich Gedanken, Anregungen und Formulierungen auf, die vor allem auf C.H. Ratschow und auf Eilert Herms zurückgehen.

eremit

Foto: Jens Dammeyer, DCI

Auch hierbei handelt es sich um eine Sammelbezeichnung für mehrere Theorien. Den gemeinsamen Ansatzpunkt kann man gut mit einem Zitat von C.H. Ratschow markieren. In seinem Buch "Die Religionen" (Gütersloh 1979, S. 126f.) schreibt er: "Ein Gott ist als Gott der absolute Herr wie die absolute Wahrheit wie der einzig absolute Halt im Leben und im Sterben. Er besitzt diese absolute Geltung unter denen, die seine Epiphanie betraf. Alle anderen Menschen vermögen seinen absoluten Anspruch weder einzusehen noch anzuerkennen. Wem ein Gott nicht widerfuhr, der sieht seine Gottheit nicht ein! Der Absolutheitsanspruch der Religionen ist daher für die eigene Religion unabweisbar, für jede fremde Religion nicht nachvollziehbar."
Ist das, was Ratschow hier vertritt, nicht faktisch eine Variante der fundamentalistischen Position - jedenfalls bezogen auf die Epiphanie, also auf die Offenbarung Gottes? Das wäre sogar die fundamentalistische Position in Reinkultur, wenn Ratschow sagte; "Unser Gott besitzt abso lute Geltung, weil uns seine Epiphanie betraf." Aber Ratschow spricht bewußt von einem Gott, nicht etwa weil er der Meinung wäre, es gäbe mehrere Götter, sondern weil er zum Ausdruck bringen will, daß das, was für die je eigene Religion in Anspruch genommen wird, auch jeder anderen Religion zugebilligt werden muß. Der entscheidende Unterschied zur Position des Fundamentalismus (und des Relativismus!) besteht also darin, daß der absolute Geltungsanspruch nicht nur für die eigene Religion, sondern grundsätzlich für jede Religion anerkannt wird - jedenfalls wenn diese Religion ihn selbst erhebt.
Der positionelle Pluralismus beansprucht nicht, über die Wahrheit anderer Religionen negative oder positive Aussagen machen zu können. Er weiß, daß wir nur in Gedanken versuchen können, aus der uns erschlossenen Wahrheitsgewißheit herauszutreten. Und er weiß, daß wir uns nicht willkürlich (also durch Entschluß) eine andere Wahrheitsgewißheit zu eigen machen können. Wir haben nicht die Möglichkeit, den Wahrheitsanspruch einer anderen Religion zu bestätigen, dazu müßte er sich uns erschlossen haben. Wir haben aber auch keinen Grund, diesen Anspruch zu bestreiten. Denn dazu müßte er sich uns zunächst erschlossen und schließlich doch als falsch erwiesen haben - wie dies etwa der Fall ist, wenn Menschen sich bewußt von ihrer Religion abwenden oder zu einer anderen Religion konvertieren.

Ich bezeichne diesen Theorietyp als "positionellen Pluralismus" und gebrauche damit bewußt eine doppeldeutige Formulierung. Sie meint einerseits einen Pluralismus (also eine grundsätzlich anerkannte und als Möglichkeit gewollte Vielfalt) von religiösen Positionen, die je für sich von Wahrheitsgewißheit geprägt und bestimmt sein können. Und sie meint andererseits einen Pluralismus, der aus der Position des christlichen Glaubens gewonnen und abgeleitet ist, genauer: aus der Lehre vom heiligen Geist als dem Geist Gottes, der in einem Menschen den Glauben weckt, den der Mensch nicht von sich aus hervorbringen kann.

Foto: Anders Blichfeld, DCI

swamibhu

Was der christliche Glaube damit von sich selbst bekennt, muß er konsequenterweise zumindest als von Gott zugelassene Möglichkeit auch für andere Religionen gelten lassen. Vor allem aber muß er es sich verboten sein lassen, das Wirken des Heiligen Geistes in die eigene Regie nehmen zu wollen, um Anhänger anderer Religionen gegen ihre Überzeugung zu Christen zu machen. Dies schließt freilich die Bezeugung des eigenen Glaubens anderen Menschen gegenüber in keiner Weise aus. Im Gegenteil: Zum respektvollen und ernsthaften Austausch zwischen den Religionen gehört notwendigerweise die (wechselseitige) Bezeugung des eigenen Glaubens bzw. der eigenen Religion, also das, was wir mit einem herkömmlichen (und leicht mißdeutbaren) Begriff als den missionarischen Auftrag bezeichnen. Dieser Auftrag wird freilich dort nicht erfüllt, sondern geradezu verraten, wo die Bezeugung verfälscht wird zur Indoktrination oder zur Abwerbung mit unlauteren Mitteln.

Offene Flanke
Ist ein solcher positioneller Pluralismus eine befriedigende Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem christlichen Glauben und den anderen Religionen im Hinblick auf die Wahrheitsfrage? Das zu beurteilen, steht mir nicht zu. Aber auf eine offene Flanke dieser Antwort will ich doch abschließend hinweisen. Wie ich oben erwähnte, ist der positionelle Pluralismus, den ich hier vertrete, eine spezifisch christliche Position. Das heißt nicht notwendigerweise, daß er für andere Religionen inakzeptabel wäre. Aber ob er von ihnen (und wenn ja, von welchen Religionen) akzeptiert werden kann, ist eine offene Frage.

Neo-Sikh Guru und Anhänger

Neo-Sikh Guru in New Delhi
wird von seinen europäischen Anhängern gegrüßt
Foto: DCI Aarhus

Was folgt aber daraus, wenn andere Religionen oder Weltanschauungen (auf dem selben Territorium) dem nicht zustimmen, sondern einen prinzipiellen Relativismus vertreten, der gar keine öffentlich artikulierten religiösen Wahrheitsgewißheiten duldet, oder wenn sie einen radikalen Fundamentalismus vertreten, der ebenfalls die öffentliche Kommunikation über Religion unterbindet und z.B. die Abkehr von der eigenen Religion unter Todesstrafe stellt?
Ich sehe hier in Konsequenz meines Ansatzes keine andere Möglichkeit als das öffentliche Eintreten für eine Verfassungsordnung, die genau diesen positionellen Pluralismus ermöglicht, ja ihn rechtsstaatlich garantiert. Denn es gibt wohl kein anderes Modell, das in gleicher Weise einerseits das Eigenrecht der religiösen Wahrheitsgewißheiten und -ansprüche aller Religionen und Weltanschauungen zur Geltung bringt und andererseits dem gesellschaftlichen Frieden dient. Ich sehe dieses Verfassungsmodell u.a. im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (unter Einschluß der Präambel) in überzeugender Weise repräsentiert. Und ich empfinde es auch als beruhigend, daß dieses Modell von einem breiten Konsens in unserer Gesellschaft getragen ist. Für diesen Konsens müssen wir aber auch immer wieder argumentativ und werbend eintreten, und zwar einerseits in unserem Land (insbesondere im Blick auf die nachwachsenden Generationen), andererseits aber auch im Rahmen der außenpolitischen Beziehungen insbesondere dort, wo bislang noch keine wirkliche Religionsfreiheit herrscht.
Wir dürfen nicht die Religionsfreiheit der Muslime in Deutschland solange einschränken, bis in der Türkei und im Sudan Religionsfreiheit für Christen herrscht. Aber wir müssen (auch unter Verweis auf die bei uns praktizierte Religionsfreiheit) offensiv und unnachgiebig in solchen und anderen Ländern für Religionsfreiheit aller Menschen eintreten. Staatliches Recht darf die religiöse Kommunikation und die öffentliche - auch kontroverse - Kommunikation über Religion und ihre Wahrheit nicht unterdrükken, sondern muß ihr Raum geben. Indem der Staat dies tut, leistet er einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung und zur Regeneration der Voraussetzungen, von denen er lebt, die er aber selbst nicht garantieren kann.

Dr. Wilfried Härle ist Professor für Systematische Theologie (Ethik) in Heidelberg.
Wir übernahmen seinen Beitrag mit freundlicher Genehmigung des Autoren und der Redaktion
aus "Die Zeichen der Zeit - Lutherische Monatshefte" 7/98.
Redaktionsanschrift ZdZ/LM:
Knochenhauerstr. 42, D-30159 Hannover, Fax: 0049-511-1241-946


Seite 3-6 weiter Seite 7 ( 9 KB)
Anfang

Start-Seite 1