Wie die Splitter eines zerbrochenen Kirchenfensters.

Die Kirchen versagen, die Sekten gedeihen.

Bizarrer Wunderglaube und aberwitziger Fundamentalismus vertreiben die Gläubigen aus den Gotteshäusern.

Von Eugen Drewermann

EUGEN DREWERMANN:

"Sekten erhalten ihre scheinbare Berechtigung durch die beharrliche Weigerung der Großkirchen, eine religiös gültige und moralisch gütige Synthese von Rationalität und Mystik, von Geist und Natur, von Mensch und Tier zu formulieren."
Den Kirchen laufen die Leute weg. Allein in 1991 verließen in Deutschland ca. 230 000 evangelische und mehr als 150 000 katholische Christen ihre Kirchen, ein Jahr danach stieg die Zahl sogar noch um weitere 30 Prozent an, seitdem hält sie sich auf einem hohen Sockel relativ konstant. Selbst fünf Millionen Mark teure Werbeaktionen von fünf katholischen Diözesen, oder die kirchliche Finanzierung von pfarrerfreundlichen Fernsehserien konnten diesen Trend nicht umkehren. Es ist eine eitle Selbsttäuschung, wenn prominente Kirchenvertreter erklären, die Leute glaubten eben nur noch ans Geld und wollten die Kirchensteuer sparen, oder sie glaubten eben an gar nichts mehr und seien ganz einfach "Neuheiden", so schlimm, wie es nach Meinung von Bischof K. Lehmann (Mainz) seit den Tagen des heiligen Bonifaz in deutschen Landen nicht mehr der Fall war.

Wahr ist, daß heute etwa 80 Prozent der Bevölkerung, egal, ob sie formell noch zur Kirche gehören oder nicht, von der kirchlichen Verkündigung eher abgeschreckt als angelockt werden. Die Kirche als beamtete Institution tut nicht, was Jesus wollte und was die Menschen brauchen - das ist der allgemeine Eindruck; sie verwaltet im wesentlichen nur noch sich selbst, vor allem ihre beachtlichen Immobilien und Ländereien; sie redet eine unverständlich gewordene Sprache; ihre "Gottesdienste" beeindrucken als feierlich kostümierte Langeweile; und nicht zuletzt: Die Kirche scheint zu einer anonymen Behörde entartet, die sich eher an großen Mitgliederzahlen als an den Nöten und Fragen der einzelnen interessiert zeigt. Mit ihren fertigen dogmatischen Formeln, ausgefeilt in Jahrhunderten, verfügt sie nicht mehr über die Kraft, Menschen in den entscheidenen Fragen des Lebens Halt und Orientierung zu geben.

So geht derzeit ein Bruch durch die Generationen. Die Eltern können in der Kirchensprache ihren eigenen Kindern nicht mehr sagen, was sie tröstet angesichts von Krankheit, Unrecht und Tod, und was ihnen weiterhilft, wenn sie nicht mehr weiterwissen. Der Kirchenbesuch schon der Achtjährigen gerät selbst am Ostermorgen in den noch verbliebenen kirchentreuen Familien zu einer Frage der Macht von Tradition und Elternautorität - nicht mehr des Glaubens; und 18jährig geworden, werden auch die Noch-Kirchgänger wie selbstverständlich wegbleiben. Wohin aber werden sie gehen?

Insbesondere die katholische Kirche hat seit Papst Gregor VII. im 11. Jh. einen uneingeschränkten Monopolanspruch auf die Wahrheit Christi erhoben, die sie in den Händen des römischen Papstes und der Bischöfe unfehlbar zu hüten meint. Jeder, der ihr den Rücken kehrt, begibt sich, so droht sie, objektiv in die Unsicherheit, in den Unglauben, in die Gottesferne. Genau das aber ist der springende Punkt: Die Religion ist keine Angelegenheit eines vermeintlich "öbjektiven" Wissens, - das spüren immer mehr Menschen; sie ist eine Frage der persönlichen Existenz; sie ist keine Lehrform, sondern eine Lebensform. "Selbst Konzilien können irren", meinte schon Martin Luther 1519 in Leipzig. Die "Wahrheit", christlich betrachtet, liegt einzig in der Unmittelbarkeit des Menschen zu Gott. Und gerade das ist es, was die Menschen heute wie verzweifelt suchen. Sie erwarten, daß es nicht länger um die Glorie der Kirche, sondern um sie selber geht. "Die Religion ist eine Sache des einzelnen", schrieb R. M. Rilke bereits um 1902, und fügte hinzu:

"Das Auftauchen von Sekten in Rußland und Schweden ist nichts weiter als das natürliche Streben, die Last eines gemeinsamen und erstarkten Glaubens aufzulösen, auf einzelne zu verteilen, persönlich zu machen."

Die Gefahr freilich ist dabei groß, die ersehnte Freiheit eines offenen Suches auf die Dauer nicht zu ertragen und am Ende doch wieder Unterschlupf in einer neuen Zwangssicherung verordneter "Wahrheiten" zu suchen. Der Vorwurf ist gewiß leicht zu erheben, daß manche Sekten noch weit machtbewußter, gewinnsüchtiger, dogmatischer und abergläubischer sich gebärden als die etablierten Großkirchen, aus deren Versatzstücken sie sich mit größter Freizügigkeit bedienen. Und doch demonstrieren die außerkirchlichen Religionsbewegungen allein schon durch ihre Verbreitung, mehr noch aber durch die Inhalte, die sie vertreten, dreierlei zugleich.

  1. Die Zeit scheint endgültig vorbei, da man "Gott" den Menschen von außen, im Gefühl lehramtlicher Macht und tradiertem Offenbarungswissen, dekretieren konnte. 200 Jahre nach Voltaire, Lessing, Kant und Schleiermacher spüren die Menschen instinktiv, daß Religion mehr sein muß als das Ensemble alter Kinderängste. Die Großkirchen aber haben die Macht verloren, vor allem im sexuellen Bereich noch nachhaltige Schuldgefühle zu erzeugen, und plötzlich zeigt sich, daß sie recht eigentlich nur zur Lösung derjenigen Probleme und Konflikte nötig waren, die sie selber mit ihren zum Teil wirklichkeitsfremden Moralvorstellungen und absonderlichen dogmatischen Doktrinen geschaffen haben. Die übliche Decke ist aufgesprengt, und so suchen viele Menschen heute nach einer Religionsform, die ihren persönlichen Erwartungen näher steht.

    Oft werden dabei die Kirchen der Reformation, die gerade aus dem Abwehrkampf gegen den Imperialismus der römischen Papstkirche hervorgegangen sind, ungerechterweise mit in den Strudel ihrer "Schwesterkirche" hineingerissen, teils weil sie aufgehört haben, sich klar genug zu profilieren, teils weil sie tatsächlich liberaler sind und es daher dem einzelnen leichter fällt, sich von ihnen zu lösen. Schließlich kann man Schach oder Tennis spielen, ohne einem Schachklub oder Tennisverein beizutreten -, und vor allem ein Christ kann man offenbar um so besser sein, als man sich dem absurd anmutenden Konfessionszwang entzieht. "Warum hast du keine Religion?" - "Aus Religion." Das ist die Antwort vieler Menschen heute, und sie ist wohlbegründet. Wer an einen Gott glaubt, der nach der Meinung Jesu die Sonne aufgehen läßt über alle Menschen (Mt. 5, 45), der wird es nicht länger dulden, daß im Namen der etablierten Religionen und Konfessionen aus dem Schöpfer des Himmels und der Erde eine Lokal- oder Nationalgottheit zur Rechtfertigung eines fanatischen Exklusivitätsdenkens gemacht wird.

    So parikular und engstirnig die einzelnen Sekten auch wirken und im einzelnen auch tatsächlich sein mögen - ein Hauptmotiv ihrer Anziehungskraft liegt allemal in der Verheißung universeller Weite und grenzenloser Integrationsbereitschaft, von Eigenschaften also, die dem Ursprung nach zutiefst in der Vision des Mannes aus Nazareth vom Anbruch des "Reichs Gottes" begründet liegen, die den Großkirchen aber nach den Jahrhunderten ihres endlosen Gezänkes um den rechten Glauben so recht niemand mehr glauben will.

  2. Ein ungelöstes Problem der tradierten kirchlichen Theologie liegt insbesondere in der falschen Beziehung von Mensch und Natur. Der biblische Schöpfungsglauben hat den Menschen, scheinbar problemlos, in den Mittelpunkt der Welt gerückt, und ihm alle Rechte gegenüber der Natur zugesprochen, die er laut göttlichem Auftrag sich "untertan" machen darf und soll. Im "christlichen" Abendland waren es seit dem Beginn der Neuzeit wesentlich die Naturwissenschaften, die dieses Weltbild Zug um Zug zerstört haben. Im Februar 1600 wurde der Dominikanermönch Giordano Bruno in Rom verbrannt, einfach weil er es wagte, die Entdeckungen des Kopernikus mit einer neuen religiösen Weltsicht zu verknüpfen:

    Das Universum war für ihn ein beseeltes, organisches Ganzes und als solches in einer nach Zeit und Raum unendlichen Entwicklung begriffen, ein Kosmos, bestehend aus unendlichen Sonnen und unendlichen Welten, der unendliche Spiegel eines unendlichen Gottes. Die römische Kirche brauchte bis zum Jahre 1992, um auch nur die Bewegungsgleichungen aus Galileis Mechanik als Rechtens anzuerkennen. Bis heute hielt sie an ihrem mittelalterlichen Weltbild in allen wesentlichen Punkten unverändert fest. Noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein bekämpfte sie die Entdeckungen Ch. Dovinius, und noch immer steht sie mit der Verhaltensforschung und der Psychoanalyse auf Kriegsfuß.

    Es war nicht die Kulturpolitik der alten DDR, die aus der Evolutionslehre ein Argument des Atheismus machte, es war (und ist) die Uneinsichtigkeit der kirchlich verordneten Starre selbst, die Generation für Generation mit ihrem bizarren Wunderglauben und aberwitzigen Fundamentalismus eine Vielzahl nachdenklicher junger Menschen von sich wegtreibt.

    In dieser Situation gewinnt die Weisheit des asiatischen Einheitsdenkens eine außerordentliche Plausibilität. Die gefühllose Grausamkeit der jüdisch-christlichen Religion gegenüber den Tieren entsetzte vor 150 Jahren schon A. Schopenhauer und war für ihn ein Argument zugunsten einer buddhistisch-hinduistischen Spiritualität. Wir haben, erneut gegen den Widerstand des Kirchendogmatismus, von seiten der Naturwissenschaften lernen müssen, wie eng Mensch und Tier in der Geschichte des Lebens auf diesem Planeten zusammenhängen und daß die Gefühle höherer Säugetiere nicht sehr verschieden sind von unseren eigenen, doch gibt es bis heute weder eine Ethik noch eine Frömmigkeit, die diesen Einsichten Rechnung trüge. Esoterische Mystik, astrologische Weissagung, alle möglichen Kopien "primitiver" Magie, Seelenwanderungslehre und Karmaphilosophie gehören zur Grundausstattung zahlreicher Sekten, so abstrus ihre Praktiken im Einzelfall auch ausfallen mögen, - sie erhalten ihre scheinbare Berechtigung durch die beharrliche Weigerung der Großkirchen, eine religiös gültige und moralisch gütige Synthese von Rationlität und Mystik, von Geist und Natur, von Mensch und Tier zu formulieren.

  3. Das Hauptdefizit der kirchengebundenen Theologie aber liegt im Bereich des Psychischen; nicht umsonst ist die Attraktivität zahlreicher Sekten gerade hier besonders groß. Die Vernachlässigung des einzelnen und die Isolation des Menschen aus der Natur wirken zusammen in der Gleichgültigkeit der kirchlichen Lehre und Phrasen gegenüber den Fragen von Individuation und Selbstfindung. Immer noch erweckt vor allem die katholische Kirche in den jüngsten Enzykliken des Papstes den Eindruck, als falle die menschliche Seele im Augenblick der Zeugung fertig vom Himmel. Die sechs Siebtel des Unbewußten der menschlichen Psyche spielen für die kirchliche Moraltheologie und Glaubenslehre anscheinend keine Rolle. Der Vorwurf Feuerbachs in den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts schon, die Kirchendogmen projizierten das Bilderbuch der menschlichen Seele zur Entfremdung des Menschen auf Erden in den Himmel, ist niemals konstruktiv durch psychologische Vertiefung des eigenen Standpunktes durchgearbeitet worden.

    Die Folge: die Kirchenmacht hat sich an die Stelle der menschlichen Selbstwahrnehmung gesetzt; sie dient nicht der Reifung der menschlichen Person, sondern steht seit den Tagen Sigmund Freuds selbst unter dem Verdacht, die Quelle zahlreicher psychischer Deformationen zu sein. Die klassischen Seelsorgeinstrumente der katholischen Kirche: die Beichte und die Krankensalbung, sind zu etwas Äßerlichem, fast Peinlichem verkommen, wohingegen die Sprechzimmer der Psychotherapeuten und Psychiater von Patienten überquellen. Die religiöse und seelische Not der Menschen ist riesig, nur die beamteten Kirchenvertreter hören sie nicht und fürchten sie förmlich: Es müßte alles in der Kirche sich ändern, um darauf hilfreich und heilend antworten zu können.

    So viel ist klar: Die Sekten sind das Ergebnis des Versagens der Kirchen. In der Sprache Jesu:

    "Die Menschen sind wie versprengte Schafe ohne Hirten" (Mk. 6, 34).

    Worauf es heute ankommt, ist nicht mehr der seit Jahrhunderten vergebliche Versuch eine Kirche zu ändern, die sich partout nicht ändern will, sondern eine glaubwürdige Form des Glaubens für die Menschen heute und die Menschheit von morgen zu gewinnen. Die Bedingungen und Erfordernisse einer solchen Religiosität werden von den Sekten immerhin richtig geahnt: Wahr ist eine Religion nur, die

    1. zwischen den Kulturen der Menschheit vermittelt, statt zu trennen, die
    2. zwischen Mensch und Natur verbindet, statt zu spalten, und die
    3. zwischen Denken und Fühlen, Bewußtsein und Unbewußtem integrierend, statt dissonierend wirkt.

    Die Sekten heute sind wie die Splitter eines zerbrochenen Kirchenfensters, doch in diesen Scherben spiegelt sich das Licht einer aufgehenden Sonne, das in dem Raum keiner noch so ehrwürdigen Kathedrale mehr sich gefangennehmen läßt.