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DIALOG & APOLOGETIK

Hilfe zum Dialog

Das Handbuch Religiöse Gemeinschaften

von Detlef Bendrath

Horst Reller zum 70. Geburtstag am 17. April 1998

Das Handbuch Religiöse Gemeinschaften, das von einem Arbeitskreis der VELKD erarbeitet und im Auftrag des Lutherischen Kirchenamtes von Horst Reller, Manfred Kießig und Helmut Tschoerner herausgegeben wird, liegt seit 1993 in 4. Auflage vor. An der 5. Auflage wird z. Zt. Gearbeitet.
Als informatives Sachbuch wird es weit über die lutherischen Kirchen und über den kirchlichen Bereich hinaus geschätzt. Im Handbuch kommt zur Sprache, was eine Gemeinschaft glaubt, verkündet und tut. Auf Grund der Informationen kann der Leser sich sein eigenes Urteil bilden.

Die Darstellungen sind jeweils mit einer davon abgesetzten Stellungnahme verbunden. Diese Stellungnahmen orientieren sich am Evangelium, wie es in der Heiligen Schrift gegeben und im Bekenntnis der evangelisch-lutherischen Kirche bezeugt ist. Diese Position, von der aus die Nähe oder Ferne zu anderen Gemeinschaften bestimmt wird, kommt durch die im Handbuch enthaltene Selbstdarstellung der evangelisch-lutherischen Kirche noch einmal klar zum Ausdruck. Die evangelisch-lutherischen Kirche stellt sich den Kriterien, die sie auf andere anwendet. Für jeden Leser werden die Stellungnahmen so überprüfbar und hinterfragbar.

Innerkirchlich ist festzustellen: Die Stellungnahmen haben keinen kirchenrechtlichen Charakter. Sie sind jedoch Hilfen zur Anwendung der jeweiligen landeskirchlichen Bestimmungen, und durch ihre Qualität werden sie als inoffizielle Richtlinien beachtet weit über den Raum der VELKD hinaus.

Entstehung und Geschichte

Ausgangspunkt für die Entstehung des Handbuchs war nicht das Erscheinen von Neu-Religionen, Gurubewegungen, Psychoorganisationen. Diese Feststellung erscheint mir wichtig angesichts einer oberflächlichen und unsachlichen Kritik am Handbuch, die von einer "Feindbild-Apologetik" spricht. Bedingt durch die Bevölkerungsumschichtungen durch Flucht und Vertreibung nach dem 2. Weltkrieg war es u.a. zu Eintritten in die Evangelisch-Lutherische Kirche und zu Übertritten aus anderen Glaubensgemeinschaften gekommen. Im Zusammenhang mit den Überlegungen zu einer Ordnung des kirchlichen Lebens - nach der Gründung der VELKD im Jahre 1948 - kam es bei der Tauffrage zu der Feststellung: Bei der Aufnahme in die lutherische Kirche kommt es nicht darauf an, in weicher Gemeinschaft die Aufzunehmenden getauft wurden, sondern ob die Taufe dort mit Wasser und auf den Namen des Dreieinigen Gottes vollzogen worden war, da nach lutherischer Auffassung in der Taufe Gott selbst handelt. Eine bedingte Taufe (Konditionaltaufe) "Ich taufe dich ... für den Fall, daß du noch nicht getauft bist" widerspricht dem lutherischen Taufverständnis.

Auf Grund dieser theologischen Position in der Tauffrage mußten Ermittlungen über die Taufpraxis anderer christlicher Gemeinschaften durchgeführt werden. So bat die 4. Tagung der 1. Generalsynode der VELKD im Jahre 1952 in Flensburg die Kirchenleitung, dafür Sorge zu tragen, daß bei allen christlichen Gemeinschaften in unserem Lande festgestellt werde, ob die Taufe dort >dem Taufbefehl Christi gemäß< vollzogen werde oder nicht. Hiermit verbanden sich naturgemäß weitere Fragen, nämlich, ob man Mitglieder bestimmter Gemeinschaften zur Patenschaft zulassen könne oder nicht, ob man ersatzweise Glieder einer solchen Gemeinschaft trauen oder beerdigen dürfe oder nicht, ob man ihnen kirchliche Räume zur Verfügung stellen könne usw. (vgl. S. 934 ff.). In den Jahren 1953 bis 1963 wurden Ermittlungen zu acht Freikirchen, fünf Sondergemeinschaften mit verbreiteter Doppelmitgliedschaft und 19 Sekten durchgeführt, und es wurde in 32 Darstellungen dargelegt, wie die betreffende Gemeinschaft entstanden ist, welche Lehre sie hat, wie sie sich zu den altkirchlichen Bekenntnissen und zu den großen Kirchen verhält, sich zur Ökumene stellt und wie sie es mit ihrer Praxis von Taufe, Abendmahl usw. hält. Hinzu trat jeweils eine Stellungnahme, wie man etwa mit Fragen der Taufanerkennung, der Patenschaft aus Sicht der lutherischen Kirche verfahren könne. 1966 erschienen diese Texte in Lose-Blatt-Form und wurden bald zu einem wichtigen lnformationsmittel in der Hand des Seelsorgers, auch über den Bereich der VELKD hinaus.

1964 wurde der Arbeitskreis für Freikirchen und Sekten der VELKD (seit März 1977: Arbeitskreis Religiöse Gemeinschaften) mit der Weiterarbeit an diesem Handbuch betraut. Dabei erwies es sich als notwendig, ältere Darstellungen zu überarbeiten, weitere Gemeinschaften zu ergänzen und vor allem solche Anschauungsweisen zu untersuchen, die am äußersten Rand des Christentums oder schon außerhalb desselben stehen. Die Überarbeitungen und Neufassungen kamen 1970 als Nachlieferungen heraus.

1977 wurde die Form der Lose-BlattSammlung aufgegeben, 1978 wurde das Handbuch als festes Buch herausgegeben. Von Auflage zu Auflage ergaben sich dann durch die weitere Entwicklung des religiös-weltanschaulichen Bereichs notwendige Erweiterungen und z. B. eine gesonderte Gliederung für Weltanschauungen gegenüber der für Sekten.

Der Titel des Handbuchs "Religiöse Gemeinschaften" wird zwar durch Untergliederungen spezifiziert, birgt aber das Problem, daß hier auch Psychoorganisationen mit erfaßt werden, bei denen bestenfalls von religiösen Elementen gesprochen werden kann, bzw. die jede Verbindung zum Religiösen bestreiten. Die Frage nach dem Menschenbild wird
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uns in diesem Zusammenhang zunehmend zu beschäftigen haben.




Gliederung der religiösen Szene

In der 4. Auflage des Handbuchs sind Definitionen gegeben, die klarstellen, in welchem Sinne die Unterscheidungen zwischen den Gemeinschaften, Gruppen und Bewegungen gemeint sind:

1. Freikirchen:
Kirchen und Gemeinschaften, die aus dem Bemühen um die Erneuerung urchristlichen Gemeindelebens entstanden sind und zu denen ökumenische Beziehungen bestehen oder möglich sind

2. Sondergemeinschaften:
Gemeinschaften, die teilweise Beziehungen zu den Kirchen haben, aber Sonderlehren vertreten, die in einigen Fällen auch sektiererische Züge tragen; bei einigen dieser Gemeinschaften sind die Mitglieder zugleich Glieder der Landeskirche

3. Sekten:
Gemeinschaften, die mit christlichen Überlieferungen wesentliche außerbiblische Wahrheits- und Offenbarungsquellen verbinden und in der Regel ökumenische Beziehungen ablehnen

4. Esoterisch-neugnostische Weltanschauungen und Bewegungen:
Weltdeutungssysteme mit religiösen Funktionen, teils mit, teils ohne Kultgemeinschaft

5. Missionierende Religionen des Ostens, Neureligionen und "Jugendreligionen":
Bewegungen mit Einflüssen aus unterschiedlichen Religionen

6. Psycho-Organisationen:
Organisationen und Bewegungen, die Psychotechniken unterschiedlicher Herkunft gebrauchen, um das Leben und Verhalten ihrer Mitglieder zu verändern und zu regulieren.




Bewegung durch das Handbuch

Der Arbeitskreis Religiöse Gemeinschaften der VELKD hat immer nach dem Grundsatz gearbeitet: Beschrieben wird der jeweilige Sachstand. Das gilt in besonderer Weise für das Verhältnis der evangelisch-lutherischen Kirche zu anderen Gemeinschaften. Der gelegentlich erhobene Vorwurf der Starrheit und Unbeweglichkeit trifft das Handbuch nicht.

Im Gegenteil: Der Grundsatz "dokumentiert wird, was ist - und nicht, was wünschenswert wäre", hat Bewegung bewirkt.

* Die im Handbuch dokumentierten offenen Fragen zur lnterkommunion zwischen Lutheranern und Methodisten hat zu Lehrgesprächen geführt, die 1987 als Ergebnis die Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft zwischen der EmK und der VELKD hatten.

* Die bis zur 3. Auflage unter "Sekten" eingeordneten Adventisten sind nach intensiven Gesprächskontakten des Arbeitskreises mit den STA jetzt als Sondergemeinschaft rubriziert, da sie wesentliche Glaubensüberzeugungen mit den Kirchen der Reformation teilen. Andererseits halten sie jedoch an Sonderlehren fest (Sabbat, Heiligtums- und Gerichtslehre, Selbstverständnis im Zusammenhang der dreifachen Engelsbotschaft aus Offb. 14), die eine Einordnung unter Freikirchen nicht begründet erscheinen lassen. Die Ergebnisse von Gesprächen zwischen LWB und Weltleitung der STA, die in den letzten Jahren liefen, müssen nun ausgewertet werden.

* Die Nichtanerkennung der "Taufe" der Christengemeinschaft bleibt auch nach Erörterungen zu dieser Frage EKD-weit bestehen.

* Die "Taufe" der Mormonen kann nicht wie früher geschehen - als christliche Taufe verstanden werden. Die "Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage" ist kaum als christliche' Sekte zu bezeichnen.

* Die Schwierigkeit der Einordnung der Mormonen führte dazu, daß in der nächsten Auflage des Handbuchs wohl eine Abteilung "Neuoffenbarungen" hinzukommen muß.

Das Handbuch kann als Beispiel für theologische Grundsatzarbeit angesichts des religiös-weltanschaulichen Pluralismus gelten.

Das Handbuch
Religiöse Gemeinschaften hat sich bewährt als:

- Dialog fördernd, weil es ein Profil hat und eine Position vertritt, die sich dem Gespräch und der Kritik stellt.

Von einigen Theologen wird zum interreligiösen Dialog die These vertreten, es sei unsere Aufgabe, "Geist und Gesinnung Jesu Christi' bei den Gesprächspartnern aufzuspüren, "das Christliche in der jeweiligen Religion" oder die "Christusenergie' in ihr zu entdecken (vgl. Reinhold Bernhardt in Heft 1 einer Schriftenreihe des Beauftragten der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, 1996). Buddhistische Gesprächspartner sagen dazu aber, daß sie einen solchen Ansatz als anmaßend und vereinnahmend empfinden. "Wir sind nicht daran interessiert, was ihr bei uns an 'Christlichem' entdeckt. Sagt uns bitte: Was ist das Christliche? Was versteht ihr unter christlichem Glauben? Wie lebt ihr ihn?" sind Fragen, die sie im Dialog vielmehr stellen.

- Ökumene fördernd durch die klare Analyse des Ist-Standes (s. o. zur Entwicklung des Verhältnisses von EmK und VELKD).

- Beitrag zum Gemeindeaufbau. Es hilft Gemeindegliedern, den eigenen Glauben vertreten zu können. (Apologetik als Gemeindeaufbau).

- Hilfe zur Seelsorge mit konkreten Vorschlägen und Anregungen.

- Orientierung für die pfarramtliche Tätigkeit, für Kirchenvorstände, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen (von der Patenfrage bis zur Raumvergabe).

- Orientierung für Ratsuchende in der verwirrenden Vielfalt der religiös-weltanschaulichen Angebote, ohne den Ratsuchenden zu vereinnahmen.

- Hilfe im Unterricht. Unterrichtende in Schule und Kirche schätzen das Handbuch wegen des klaren Aufbaus und der Gliederung, die Vergleiche ermöglicht.

- Informationsquelle für staatliche Stellen.

Das Handbuch dient der Ausfüllung und Verteidigung der Religionsfreiheit, weil es Informationen und Standpunkte nicht vorenthält und durch seine sachliche Information die Möglichkeiten und Grenzen der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit vor Auge führt.


Pastor Detlef Bendrath, 63,

Vorsitzender des Arbeitskreises Religiöse Gemeinschaften der VELKD.

Foto: Ute Gandow

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