Anonym

von Wolfgang Barthen

Nee, Muttern wollte nich

Wollte imma anonym. Det war ihr nischt mit die Grabstelle von Vatern. Da is keener mehr da, sacht se. Sie wollte partout nich." Beginn des Beerdigungsgesprächs am Telefon. "Urnenbeisetzung" hatte auf der Anmeldung gestanden. Noch bevor ich einen Termin zu einem persönlichen Gespräch vereinbaren konnte, mußte es heraus: Es ist ja nur eine anonyme Beisetzung. Schuldgefühle (?), weil die Grabstätte des Vaters leer bleibt? Oder vielmehr Angst, die Tote werde nun wortund namenlos beigesetzt? "Herr Pfarrer, sie sagen aber doch ein paar Worte ...!?" Wenig später ruft der Bestatter an, um nachzuhaken: die Angehörigen seien in Sorge, er möchte bekräftigen, es sei eine richtige Trauerfeier auf dem Friedhof bestellt. Anonyme Beisetzung - was hat es damit auf sich? Was bedeutet es und was nicht? Was ist davon zu halten und dazu zu sagen?

Anonyme Beisetzung

Zunächst einmal ist zu sagen: Sie nehmen zu. Bis in die 50er Jahre waren anonyme Bestattungen nach der Friedhofsordnung noch gar nicht vorgesehen, heute bestimmen sie mehr und mehr als "Urnen-Gemeinschaftsgrabstätte" das Bild des Friedhofs und auch den Alltag der Pfarrer. Anonym hört sich an nach: namenlos, spurlos, wortlos. Die Person bleibt im Dunkeln. Ja, ob man da überhaupt mitgeht? Da findet doch "nichts" statt, und vielleicht ist das auch gerade gewollt!? Anonyme Beisetzungen (als Ausdruck anonymer Verhältnisse und falscher Bescheidenheit) sind auf dem Vormarsch, und zugleich herrscht große Unklarheit und Verwirrung: Abbruch aller Form.

Namenlosigkeit

Die simple Behauptung und ungeheure Praxis: Ein namenloses Leben geht ein in die Namenlosigkeit. "Keine Angehörige", steht auf dem Anmeldezettel, da kann er doch auch gut ohne Wort und Mensch beigesetzt werden. Warum extra einen Pfarrer bemühen (fragen die Bestatter und verfahren entsprechend, die sind ohnehin schwer zu erreichen); warum nach Angehörigen forschen, fragt sich der Pfarrer, die hätten sich ja zu Lebzeiten zeigen können. Unheilige Allianz der Unpersönlichkeit, des Nicht-Ernstnehmens, daß kein Mensch namenlos und menschenlos über diese Erde geht. Bei Gott nicht. Bei Gott - nein!

Gemeinschaftsgrabstätte

Noch einmal nüchtern: Anonyme Bestattung heißt nicht mehr und nicht weniger: die persönliche Grabstelle ist nicht markiert und daher in der Regel nicht auffindbar. Urnen (ganz selten auch Särge) werden auf einem Rasenfeld dicht an dicht in die Erde gesetzt. Anschließend deckt die Wiese alle(s) gleich, nur ein GedenkStein am Rande markiert die "Gemeinschafts-Grabstätte". Anonyme Beisetzung kann selbstverständlich zusammengehen mit einem Gottesdienst, Gebet und Segen in der Friedhofskapelle zuvor. Und natürlich wird auch bei einer anonymen Beisetzung am "offenen Grab" der Name des Verstorbenen noch einmal genannt, ein Wort von Jesus Christus gesagt und das Vaterunser miteinander gebetet (wenn es denn noch Menschen mit Namen und diesen Worten auf den Lippen da gibt). Auch anonyme Beisetzungen geschehen nicht namen- und menschenlos. Also, warum nicht?

Warum nicht?

Zugegeben, es ist schwer dagegen zu reden. Es paßt nie, darüber in ein Gespräch zu kommen, und ich weiß wohl, daß viele diese Bestattungsform für sich ganz bewußt gewählt und schon festgelegt haben. Und eine jede solche, doch elementar persönliche Entscheidung ist zu respektieren und zu erfüllen. Aber Fragen ist doch erlaubt und Nachdenken - so lange wir uns noch fragen können!

Fragen ist noch erlaubt

Fragen wir also: Steckt nicht hinter dem Wunsch nach unauffindbarer Grabstelle das Motto: "Nur keine Umstände??" Und, wo kämen wir da hin - (Wo kommen wir hin? - sind längst da!) wenn wir das gegenseitig wahr machen: einander keine Umstände machen, sich nicht zur Last fallen, sich nicht nötig haben, nichts voneinander brauchen, sich nichts zumuten, nichts erwarten? Wo kommen wir da hin? Wir wissen es und sehen es. "Nur keine Umstände." "Ist nicht nötig." "Sie hat für sich selber nichts gebraucht." Schade. "Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen", setzt der Apostel dagegen (Gal. 6, 2) - und es gibt noch Brautpaare, die sich das zumuten und zutrauen; auch noch Eltern, die das für ihre Gräber von den Kinder erwarten?

Lebenszeichen

Noch eine Frage: Stellen Sie sich vor, unsere Stadtlandschaften wären von Friedhöfen geprägt, die überwiegend aus großen Rasenflächen bestünden. Ab und zu ein kollektiver Grabstein, kleine Autos fahren geräuschlos kreuz und quer über die Flächen und entfalten ihr Leben. Schließlich muß gemäht werden. Können Sie sich vorstellen, einen solchen Friedhof zu besuchen, zum Erinnern, zum Trauern, zum Atemholen? Könnten Sie sich vorstellen, dort jemanden zu treffen, mit ihm oder ihr Platz zu nehmen, über das Leben zu plaudern und das Licht der Vorangegangenen leuchten zu lassen? Welche Denk-Male und LebensZeichen wären abzuwandern und würden zu uns sprechen? Welche Stadt- und Kulturgeschichte wäre nie geschrieben! Welche verwilderten Hecken und verwunschenen Plätze hätten nie sein dürfen ... Es sei doch alles nur auf Zeit und nicht ewig, selbst des großen Volkspredigers Schleiermachers Stein und Bildnis werde einmal fallen und eingeebnet - wohl wahr. Wir sollten's wissen und uns nicht vermessen und die Grabsteine nicht mit dem Buch des Lebens verwechseln, in das alle unsere Namen unauslöschbar eingeschrieben sind. Aber für die vorläufige Zeit und untereinander sollten wir uns soviel Ehre antun wie möglich und soviel Lebenszeichen setzen, wie wir nur können. Wer weiß, wer sie wahrnimmt und pflegt. Wenn sie nur da sind, anders können sie nicht gefunden werden.


Pfr. Wolfgang Barthen,
52, ist Pfarrer an der Auen-Kirche in Berlin-Wilmersdorf