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BERLINER DIALOG 17, 2-1999 Johannis - Martini

 DOKUMENTE

Schon in der Vergangenheit hat sich der BERLINER DIALOG immer wieder an der hoch ideologisierten Debatte um die "Qualifikation der Beraterszene" mit versachlichenden Beiträgen und kritischen Rückfragen beteiligt: Mit redaktionellen Beiträgen, aber auch grundsätzlichen Stellungnahmen von Gastautoren. Für den eigenen, kirchlichen Bereich hat der BERLINER DIALOG dabei stets ein theologisch verantwortetes apologetisches Handeln der Kirchen gefordert. Nach der Veröffentlichung des Schlußberichtes der Enquetekommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" des 13. deutschen Bundestages hat die Diskussion um die Beratungsarbeit und ihre Ausrichtung sowie um die Qualifikation der Beraterinnen und Berater eine neue Qualität bekommen. So befürwortet die Kommission in ihrem Endbericht als "Aufgabenfeld" für die allseits geforderte Stiftung "die Mediation ( - Vermittlung. - Red.) zwischen Konfliktpartnern", so als ginge es in der Regel um mehr oder weniger symmetrische Konfliktbeziehungen die nur der Vermittlung bedürften. Nach dem Sondervotum der Arbeitsgruppe der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen "stellt die aktuelle oder ehemalige Mitgliedschaft in einer neuen religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaft zwar einen wichtigen Faktor dar, sie kann jedoch in der Regel nicht als Ursache der jeweils bestehenden Probleme angesehen werden. Dies wird in der Beratung zu berücksichtigen sein." Weiter heißt es in diesem Sondervotum: "Wir empfehlen deshalb, die psychologische Beratung im Umfeld neuer religiöser und weltanschaulicher Bewegungen in die allgemeine psycho-soziale Beratung einzubeziehen.
Dabei sollte eine enge Zusammenarbeit mit Fachleuten bestehen, die in den Bereichen Religion, Esoterik und 'Psychogruppen' über entsprechendes Hintergrundwissen verfügen. In diesem Zusammenhang kommt auch den Beratungsstellen der Kirchen eine wichtige Funktion zu."
(Hervorhebung durch Red.)
Was auf den ersten Blick als differenzierte Gestaltung eines Beratungsangebots erscheint, offenbart bei genauerem Hinsehen seine erheblichen Tücken. Das Sondervotum der Grünen bezieht sich zur Begründung ausdrücklich auf das Gutachten von Beate Roderigo "Zur Qualifizierung von Beratungsarbeit im Spannungsfeld sogenannter Sekten und Psychogruppen: Kriterien und Strategien. Gutachten im Auftrag der Enquete-Kommission Sogenannte Sekten und Psychogruppen, 1998 und das von den Grünen direkt angeforderte "Gutachten" von Pfr. Dr. Fritz Huth, dessen Fragwürdigkeit an anderer Stelle (BERLINER DIALOG 2-99, S. 26f.) beleuchtet wird. Nicht von Ungefähr befürchten vor allem Eltern- und Betroffeneninitiativen im Gefolge der "Qualifizierungsdebatte" eine "Psychiatrisierung" der Betroffenen, wenn die Gesellschaft auf diesem Wege das problematische Auftreten konfliktträchtiger Gruppen, so die Kritik aus den Initiativen, durch Schuldzuweisung an den Einzelnen oder die Familie zum privaten Problem der Opfer und ihrer Angehörigen umbiegt und deren mangelnder Konfliktfähigkeit oder Konfliktverarbeitung dann entweder durch "Mediation" oder durch Psychotherapie nachgeholfen werden solle.

Um die weitere öffentliche Diskussion die-ses Problemfeldes anzuregen, dokumentieren wir im Folgenden einen Vortrag von Pfr. Dr. Richard Ziegert, Speyer, den er bei einer Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung am 26. Juni 1999 im Herz-Jesu-Kloster in Neustadt/Weinstraße gehalten hat.  - Red.

Beratung oder Therapie ?
Ein evangelischer Kommentar zur Diskussion über die Konzepte der "Sektenberatung"
von Richard Ziegert

I.    I.Zu den methodischen Vorentscheidungen
Zu den methodischen VorentscheidungenEs fällt auf, daß die gegenwärtige Diskussion über ein normatives Konzept von "Sektenberatung" merkwürdigerweise fast ohne die Beteiligung evangelischer Stimmen stattfindet. Deshalb bin ich für die Einladung dankbar, darüber einmal aus evangelischer Sicht öffentlich nachzudenken zu können, durch die Zeitvorgabe bedingt freilich nur in geraffter Form.

Das Thema ist die in den Konzepten aufscheinende Alternative Beratung oder Therapie bzw. die Kombination von beidem. Dazu werden positionell dokumentierte(1) Konzepte exemplarisch beleuchtet. Ihre Kritik erlaubt einige Kriterien ins Licht zu stellen, die sich in sehr ähnlicher Argumentationsstruktur zur Rechtfertigung des Aufwandes und zur sachlichen Beschreibung der "Professionalität" in der "Sektenberatung" konzentriert auf die psychologischen Aspekte und Hintergründe des Religiösen, auch in der "sektiererischen Form", berufen. Diese Berufung dient aber nicht der psychologischen Erfassung des Religiösen. Sie dient als Sprungbrett in die von zahlreichen Psychologen in kirchlichen Beratungsstellen betriebene, in der Hauptsache psychotherapeutische Methodenlandschaft. Dies zeigt sich rein äußerlich daran, daß auch charakteristische Glaubensinhalte im Grunde vollkommen ausgeklammert werden. Sie sind kein wichtiges Beratungs-Thema, sind weder eine psychologische "Variable", noch und erst recht nicht eine "Konstante" des zugrundegelegten Personbegriffs.

Die theoretische Rechtfertigung für solche "volle Psychologisierung" findet wissenschaftliche Gestalt: "Religionspsychologie" wird anders als in den 20er Jahren aufgrund der universitären Wissenschaftsorganisation heute überwiegend als "psychologische Religionspsychologie" (2) begriffen, als Instrument der Psychologie, nicht der Religionswissenschaft. Die Popularisierung dieser Einordnung muß fast erwartungsgemäß den Blick von aller Religion noch weiter ablenken: Religiöse Wahrnehmungen, religiöses Erleben und individuelles wie gemeinschaftliches religiöses Verhalten werden als informationelle Grundlage und/oder willkommenen Anlaß genommen, um dann mit schnellen Schritten zu einer Beschreibung psychosozialer Vorgänge zu kommen, die mit den aus anderen Bereichen der Psychologie bekannten Methoden und Konzepten erfasst werden können. Gewiß wird behauptet, dabei das Religiöse noch angemessen zu berücksichtigen, aber: Religion darf nur "Symptom" sein, niemals Ursache. Damit ist unterstellt: Jede (nur) religiöse oder religiös-menschliche Einflußnahme würde die Not nicht lindern, Angst nicht reduzieren, Handlungsfähigkeit nicht herstellen können usw.. Solches können nur "Therapeuten", die seit der Antike immer auch "Fundamentalisten" waren.
Diese Grundentscheidung für den psychologisch-therapeutischen Blick ist das eigentliche Thema: die Ideologie, bei den religionspsychologischen Fragen zuerst und ausschließlich psychologisch zu fragen und damit auch die psychologischen Aspekte des religiösen Lebens und Erlebens rein von innerpsychischen und psychosozialen Faktoren her zu deuten. In allen "therapeutisch" ausgerichteten Beratungskonzepten wird der religiöse Sachgehalt neutralisiert, wenn nicht sogar wie bei Beate Roderigo in polemischer Weise disqualifiziert. Man will eine "professionell wissenschaftliche" und, wie behauptet wird, allein so mögliche "ergebnisoffene Beratung" (3). Es wird nicht systematisch danach gefragt, "welche religiösen Einstellungen das psychische Wohlbefinden beeinträchtigen oder fördern" (4). Es ist kein Interesse vorhanden, Religionspsychologie in legitimer Weise im Rahmen einer Religionswissenschaft oder Religionstheologie zu verstehen. Aber nur ein solchermaßen eingestellter Blick würde auch stringent erlauben, die Instrumente zur Religions-Kritik in der Hand zu haben bzw. auch wissenschaftlich weiter zu entwickeln.

Wer genau hinsieht kann ohne weiteres die heute weit verbreitete agile Dialektik eines angeblich rein religionsneutralen Psychologismus als "strukturelle Parteilichkeit" identifizieren. Sie ist eine intolerante "Toleranz". Bei allem auffälligen inhaltlichen Abwiegeln der Kontroversen über religiöse Gehalte transportiert sie unter der Decke sehr bestimmte Persönlichkeitsideale, deren eigener Charakter als "Religion", als Ideologie und Interessenwahrung gegenüber Kritikern  z.T. polemisch abzuschirmen versucht werden. Das Hauptargument, mit dem um politische Unterstützung und d.h. öffentliches Geld geworben wird (5), ist das der gesellschaftlichen "Neutralität", einer eben erstaunlich "totalen Neutralität", die auch keinerlei "religiöse Neutralität" anerkennt, die selbstlos und im menschlichen Sinn interessenfrei als "neutrales" religiöses Begleiten, religiöse Hilfestellung und Beistandstandschaft leistet. Stattdessen wird "Religion" prinzipiell Bevormundung, Indoktrination und Ausbeutung unterstellt und jede "protektive Funktion" (6) von Religion (Klosinski) ignoriert. Dieses Argumentationsmuster gewinnt unübersehbar gesellschaftliche Breite und auch die Kirchen (wie alle religiösen Interessengruppen) müssen heute "dieser Dialektik der Neutralität größte Aufmerksamkeit schenken" (7). Es sind die eigenen Glaubenssätze auch des Psychologen, die ihm den Zugang zur Religion völlig versperren (können). So stehen unter dem Dach "staatlich notwendiger" sektenpolitischer und d.h. hier immer auch: religionspolitischer angeblicher "Unparteilichkeit" und "Realitätsnähe" auch vor den Türen der kirchlichen Beratungsarbeit marktwillige und machtaufsaugende Ideen eines psychologischen Perfektionismus, dessen Zielpunkte allein auf die Statik von Ichstärke, Durchsetzungsvermögen und optimierter "Überlebensfähigkeit" ausgerichtet sind und dessen Methode in der "Sektenberatung" offensichtlich auch nur so heißen kann: "Erfolg ist eine im voraus getroffene Entscheidung". Das Problem muß gelöst, der Konflikt muß mindestens "reduziert" werden, es muß trotz der methodischen "Ergebnisoffenheit" doch "Ergebnisse" geben (8). Muß es aber nicht.

In solcherart psycho-ideologisch aufgeladener Form von Lebenshilfe geht es dann in der Tat nicht um Wahrheit(en), sondern nur noch um bloße Güterabwägungen, die im Konfliktfall durch den unterstellt unparteiischen Blick auf "vorhandene Ressourcen" des Klienten ein "realisierbares Beratungsziel" (9) erkennen. Alle Konstanten von "Sitte", Vertrauenskultur, religiösem Lebensprinzip oder Gewissensbindung werden in den vorhandenen Spitzentexten zum Konzept heutiger "Sektenberatung" ersetzt durch die aggressive Propaganda einer Lebenstechnik, die Menschen beibringt, grundsätzlich die Probleme bei sich selbst zu suchen, und die sich auch gar nicht scheut, mit "systemischen" Therapie-Eingriffen, d.h. mit suggestiv verfügendem Ersatz eines falschen Lebensmusters durch ein neues, anderes und besseres "System" Menschen zur Überwindung ihrer "Sektenprobleme" zu bringen. Daß die aufgebaute neue Lebensgewißheit nur ein therapeutisches "Konstrukt" ist, stört nicht: Mit dem Hinweis auf "Wissenschaftlichkeit" und einer Panzerschrank-Sicherheit suggerierenden Behauptung einfacher (nicht einmal, wie bei der in Sachen "System-Therapie" sehr genauen Selvini-Palazzoli, grundsätzlich doppelten!) Supervision wird Behauptungscharakter und Willkür der konzeptionellen Entscheidungen zu überspielen versucht.
In einem Akt der Selbsterhebung psychologischer Profession wird jede religiöse Infragestellung der eigenen Handlungsmaximen ausgeschlossen und die Klientel mehr oder weniger sanft pauschal "psychiatrisiert". Es gibt praktisch keine gesellschaftlichen, keine politischen Ursachen mehr. Und es wird ignoriert, daß Lebenskrisen grundsätzlich auch Sinnkrisen sind, religiöse Krisen, und daß die entscheidende, nachhaltige Stabilisierung und Krisenbewältigung in der existentiellen Annahme durch eine vertrauenswürdige, für das eigene Leben bedeutsame Person oder Gemeinschaft geschieht. Es wird gar nicht mehr gefragt, ob und wie die Annahme eines positiven Gottesbildes, das Vergebung, Versöhnung und Heilung innerer Zerrissenheit bringt, einem Menschen helfen kann. Es wird weithin zu verdrängen versucht, daß es in der sogenannten "Sektenberatung", um den (fairen bis unfairen) Kampf von Religion gegen Religion in der Öffentlichkeit geht, um die Behauptung positiven Glaubens gegen krankmachende Religion oder Pseudoreligion. Kaum einer der öffentlichen Akteure stellt sich noch den Schwierigkeiten der Ausgangslage: "Jede Arbeitsdefinition von 'Religiosität/Religion' steht im Spannungsfeld zwischen einer substantiellen, inhaltsbezogenen Perspektive, die angibt, was das Religiöse 'ist', und einer funktionalen, aufgabenbezogenen Perspektive, die angibt, was das Religiöse 'leistet'" (10).

II.  Zum Konzept von Beate Roderigo:  Sekten-Beratung als "Therapiearbeit"
Mit der refrainartigen Qualifizierung "Medienrummel" relativiert Frau Roderigo in ihrem Vortrag vom Mai 1996 die Präsenz des "Sektenthemas" in der Öffentlichkeit (11), und führt diese Relativierung in einer irritierenden Fixierung auch noch fast ausschließlich am Thema Scientology durch. Ihre These heißt: "Psychologische Beratung und Therapie von 'Sektenopfern' (insbesondere von ehemaligen Sektenmitgliedern) ist keine Aufgabe für spezielle Sektenberatungsstellen, sondern gehört in den Bereich der professionellen Psychologie (im Einzelfall auch der Psychiatrie). Sie sollte in das Aufgabenspektrum der allgemeinen, psychosozialen Beratungsstellen übernommen werden" (12) Es geht ihr überhaupt nicht um die "Sektenproblematik" als solche, deren Programm, Strukturen, Gemeinschaftsleben, gesellschaftliche Wirkungen: "Die Sektenmitgliedschaft (sei es der ratsuchenden Person selbst oder eines Familienmitglieds) wird dabei als Symptom gesehen, das auf eine dahinterliegende - wie auch immer geartete - Problemkonfiguration verweist" (13).
Offensiv fordert Frau Roderigo:"Diese Betrachtungsweise ist m.E. eine notwendige Voraussetzung für die Durchführung einer professionellen, den therapeutischen Idealen und berufsethischen Anforderungen verpflichteten und zugleich wirksamen Beratung", d.h.: "Fähigkeit zur Empathie und Offenheit sowie Transparenz des Beratungsgeschehens" (14) wird nur "Fachpsychologen" und ähnlich qualifizierter "Professionalität von Beratung" zugestanden, die "von der Rückbindung an eine Wissenschaft (lebt)" (15). Pauschal werden damit "Sektenberater und -beraterinnen aus Betroffeninitiativen oder im kirchlichen Auftrag" disqualifiziert: diese sind dazu "aufgrund ihrer ideologischen Ausrichtung und der Ausbildung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nur sehr begrenzt in der Lage" (16). Deren Arbeitsstil sei dominiert durch "Rollenkonflikte", "Erwartungsdruck aufgrund des angenommenen Expertentums", durch "Hybris", "Größenphantasien des Beraters", durch "ideologiegeleitete Methodik ... gerade bei der Beratung von Scientology-Betroffenen", eingeschränkt durch die "Brille vieler Sektenkritiker", die als "Funktionsstörung" wirkt, sodaß diese die "Tücken der Diagnostik" nicht überwinden, die, fachlich angewendet, dann z.B. auch bei Scientology die "Gegenbeweise" erkennen und anerkennen könnte, und last not least: durch die Toleranz, "sich für den Kampf gegen die 'bösen Sekten' instrumentalisieren und mißbrauchen zu lassen" (17).

Frau Roderigo hat ihre Thesen von 1996 in dem umfänglicheren Gutachten für die Enquete-Kommission 1998 weiter illustriert, das für die inhaltliche Bestimmung der abschließenden Empfehlung maßgebend geworden ist. So empfiehlt der Abschlußbericht "die Einrichtung einer Stiftung/Mediationsstelle als interdisziplinär arbeitendes Institut zur Durchführung von Forschungsarbeiten, Publikationen, Erstellung von Gutachten für Gerichte und staatliche Stellen sowie für Schulungs- und Informationsmaßnahmen" (18). Damit ist ein erstaunlich umfassender autoritativer Rahmen gesetzt, der unter der ideologischen Maßgabe "Mediation" tatsächlich dann auch alles zu kontrollieren hätte: die Forschung, die Rechtsprechung zu den "Sektenfragen", die von staatlichen Zuwendungen abhängige und durch Geldzuwendungen politisch beinflußbare Beraterszene und via Fortbildungsmonopol letztlich auch die Zulassung und öffentliche Reputation sogar auch der kirchlichen und freien Aktivisten in der "Sektenberatung".
Doch wer kontrolliert dann die "Mediatoren"?

Der Ausgangspunkt von Frau Roderigos Gutachten für die Enquete-Kommission ist die völlig unbegründete Behauptung, daß die "Sektenberatung ... sich aus dem Hintergrund des modernen, weltanschaulich-religiösen Diskurses gelöst hat und jetzt ein ... Eigenleben führt" (19). Konsequent wird jede Form von "Ausstiegsberatung" abgelehnt und empfohlen, "Sektenberatung im Sinne einer Verbraucherberatung durchzuführen" (20). Es gilt, in einer Art Vogelperspektive "die Vergleichbarkeit der 'Angebote' herzustellen und nicht eine a priori Verurteilung der Gruppen. Dies setzt voraus, daß auch positive Aspekte der Anbieter - seien sie nun religiös motiviert oder dem Spektrum des Psychomarktes zuzurechnen - wahrgenommen und benannt werden müssen. Psychologische Beratung in diesem Sinne würde eher die Funktion einer Mediations- als einer Ausstiegsberatung erfüllen" (21). Freilich: "Die gründliche Diagnose jedes Einzelfalles ist oberste Pflicht der Sektenberaterinnen und -berater" (22). Die in der kirchlichen wie freien Beratungsarbeit selbstverständlichen Verhältnisse werden einfach umgedreht: nicht Kult, "Sekte" oder Religion wird gründlich geprüft, sondern diejenigen, die Rat suchen, müssen sich bei der Indikation "Kult" bzw. "Sekte" auf ihren Therapie-Bedarf hin "diagnostizieren" lassen. Gilt bisher: wenn jemand will, kann er von sich erzählen, wieviel er will und es wird ebenso respektiert wie Schweigen und der Anspruch auf Intimität, so gilt jetzt, daß die Beratung genau nicht mehr nur Information sein darf, sondern die Kontakt-Kommunikation von vornherein instrumentellen Charakter haben muß. Wenn man etwas gnadenlos zurückfragt, müsste man ausführlicher prüfen, ob hiermit nicht doch ein psychologischer Voyeurismus schon in massiver Weise zum tolerierten systematischen Religionsersatz wird. Denn die mit absolutem Anspruch auftretende Ideologie der "perfekten Diagnose" ist tatsächlich selbst die einzige Letztbegründung, die nicht zugegebene Form von "Religion", die auch Frau Roderigo im Kampf sieht gegen die von ihr ausgemachten bösen Dinge in der Sektenberatung.

Auch Frau Roderigo verfolgt ihre Ketzer: Wer es anders sieht als sie, der ist bestenfalls krank. Was immer auch an religiöser "Professionalität" eingebracht werden kann, ist lediglich "Detailwissen über die Glaubenswelt und Lebenspraxis der jeweiligen Weltanschauung sowie deren Struktur und Sprache"(23). Wer darüber hinaus nicht mehr "fest auf dem Boden der Tatsachen bleibend" eine religiöse "Vorstellung vom 'idealen Menschen'" hat, bewegt sich schon im "Sektenterrain" oder hat abgehobene "Omnipotenzphantasien"; da dies aber irreale Möglichkeiten sind, "müssten Sektenberaterinnen und -berater Universalgenies oder, nach neuerem Sprachgebrauch, multiple Persönlichkeiten sein" (24), müssten also zu solchermaßen schizophrenem Denken und Handeln fähig sein, das jede Ernsthaftigkeit gesellschaftlicher Kommunikation ausschließen müsste.

Frau Roderigo will repräsentativ für den Interessenkomplex der Berufspsychologen die kirchlich-religiöse "Sektenberatung" unter psychologisch-therapeutische Kuratel stellen. Für sie gibt es, wie sie in den höchst illustrativen "Beispielen" "aus ihrem Gedächtnis" katechisiert, nur ein entweder/oder. Seelsorglich-religiöse Gesichtspunkte spielen überhaupt keine Rolle. "Die Diagnose der aktuellen Situation und des Gesamtzustandes der Sektenberatung" erlaubt ihr, "das Aufgabenspektrum, die Zielsetzung und die Grenzen der Sektenberatung ... verbindlich festzulegen" (25). Daß eine "Sekte", auch die von Frau Roderigo zur mustergültigen Diskurs-Sekte hochstilisierte und in höchst fahrlässiger Weise harmlos dargestellte Hare-Krishna-Gruppierung, wirklich zu "Gegenseitigkeit", Zulassung echter Freiwilligkeit und "Nicht-Abgrenzung" bereit ist, setzt eine Integration in unsere christlich-abendländische Aufklärungskultur voraus oder mindestens die echte Bereitschaft dazu, die die meisten Gruppierungen auch nicht ansatzweise zu leisten vermögen, auch "Hare-Krishna" noch immer nicht. Ungerührt von aller Betroffenheit durch die zugänglichen Sachstände und ohne Empfindung für die existentielle Bedeutung religiöser Praxis wird die Tiefe und Besonderheit der "Sektenproblematik" von ihr geistig planiert: "Die Alltagsbeobachtung jedenfalls lehrt, daß sich da, wo Menschen miteinander streiten, die Motive und Methoden durchaus ähneln" (26). Wer mit solch flacher Argumentation gegen alles Kirchliche und alles Religiöse gerichtet wie in einem Spinnen-Netz mit der Ermächtigung zur "vollständigen Kontrolle" und mit dem Geld des Staates das zentral bürokratisieren will, was im Leben niemals auf einen einzigen Begriff zu bringen ist, wird vielleicht nie begreifen können, welche Lebensrelevanz ein persönlicher Glaube, die Entscheidung für eine Religion und die Beziehung zu dem gewinnen in der Lage ist, was mit dem Wort Gott auch immer gemeint sein kann.

III.   Die Entwicklung des Sektenberatungskonzeptes im katholischen Raum
Noch im Jahre 1991 sehen vatikanische Stellungnahmen zu "Sekten und neue religiöse Bewegungen" (27) die "pastorale Antwort" als die grundsätzlich erforderliche Einstellung gegenüber der "Herausforderung der Sekten" an. "Pastoral" verlangt: wer Stellung bezieht, berät, etwas tun will, "darf den Anhängern der Bewegungen gegenüber nicht rein negativ eingestellt sein"; auch wenn "die Natur vieler neuer religiöser Bewegungen und ihre Vorgehensweise den Dialog mit ihnen besonders problematisch (macht), ... sollte man keine unterschiedslosen Verurteilungen der neuen religiösen Bewegungen aussprechen" (28) . Sehr nüchtern wird im katholischen Raum realisiert, "daß dieses Phänomen der Sekten nicht eine vorübergehende Zeiterscheinung ist, sondern daß es sich um eine Realität mit Infrastrukturen handelt..." (29), die ernstzunehmen ist. Die innerkatholische Diskussion hat internalisiert: "Die Welt der Religionen, der religiösen Sondergruppen und religiösen Bewegungen ist in ihrer Vielfalt im gesamten Europa präsent und macht - selbst in konfessionell mehrheitlich geprägten Ländern - einen deutlichen Wandel des Religiösen deutlich", der eine "neue Phase der Religionswahrnehmung wie auch der Religionskritik" (30) einleitet. Sachlich sicher und klar wird die Ambivalenz des Religiösen als religiöse Gestaltungs- wie Bewältigungs-Aufgabe markiert: Religion kann zum Leben helfen, aber auch zerstörerisch wirken. Deshalb muß man kritisch mit ihr umgehen können. Die alles betreffende Problemlage ist nicht auslöschbar: "Das Vorhandensein eines inneren Zwiespalts im Menschen, und zwar eines Zwiespalts, der aus sich heraus nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die konkrete Wirklichkeit von 'Gut' und 'Böse' und eines entsprechenden Handelns enthält". Diesen Zwiespalt verstehen und bearbeiten zu können, ist der Leistungsvorteil der religiösen Wahrnehmung der Lebenswirklichkeit. Er ist freilich zugleich der absolute "Gegensatz zu dem heute verbreiteten und durchgängig akzeptierten Topos 'Wir sind alle okay'..." (31).

Der "pastorale Ansatz" weiß zwar auch, wie wichtig das Bemühen um das psychische Wohlbefinden, um das alltägliche Funktionieren-Können und die Abgleichung von Interessenlagen für das Zusammenleben der Menschen ist, aber er sieht das alles von seinem Wissen um den Menschen her als etwas Vorläufiges an, das immer doch mehr oder weniger in Verstrickungen und manchmal auch unauflöslicher Tragik gefangen bleibt, deren "Bewältigung" oft nur noch im Aushalten-Können und im Gewinn von religiöser Gelassenheit besteht.
"Pastorales" Bemühen um Menschen, in protestantischer Diktion einfach "Seelsorge" genannt, hilft, daß ein Leben auch im "Sekten-Kontext" nicht in Bitterkeit, Resignation und Hoffnungslosigkeit verhärtet, sondern für einen Christen sich auch da öffnet in Hoffnung, Vertrauen und in der Fähigkeit, auch dem Menschen, der einem Böses angetan hat oder sogar noch antut, mit Menschlichkeit und Barmherzigkeit zu begegnen.

Bei allem, was z.B. auch in den vatikanischen Texten von 1991 für einen Protestanten fremd bleibt - z.B. daß Seelsorge nicht zuletzt keine gleichberechtigte Sache von "Laien" sein kann, zeichnen sie doch ein Grundverständnis des Christlichen, das "gerade in einer Zeit des drohenden kirchlichen Selbstverlustes" (Alois M. Haas, 7.6.1999) an viele unter Christenmenschen selbstverständliche religiöse Prinzipien erinnert.

In dieser Grundströmung hat sich auch der "Arbeitskreis für Sekten- und Weltanschauungsfragen im Bistum Aachen" vom März 1996 geäußert: "Nicht die Religion ist das Problem, sondern der Mißbrauch der Religion" (32). Angemahnt wird der Ausbau des "Informations- und Beratungsnetzes" (33). Inhaltlich ist das "Beratungsangebot" auf "ausstiegswillige (-fähige) Personen, die ihre Mitgliedschaft zunehmend als Belastung empfinden" einerseits und auf "Angehörige von Sektenmitgliedern" (34) andererseits ausgerichtet. Noch ist der Schatten der Enquete-Kommission des Bundestages fern: Es "besteht Einigkeit darüber, daß es keine Sektenkritik ohne Gesellschafts- bzw. Religionskritik geben darf. Das Problem der Sekten und Psychogruppen sowie das Erstarken des Esoterikbooms hat gesellschaftliche Gründe. Diese müssen benannt und angegangen werden ... Ebenso ist eine Begleitungsarbeit für ausstiegswillige Mitglieder und Angehörige von Sektenmitgliedern geboten" (35); auch die "Förderung von Elterninitiativen und Selbsthilfegruppen" (36) ist ein (noch) völlig unproblematischer Merkposten.

Dies stellt sich dann in dem 1998 für die Enquete-Kommission erstellten Gutachten schon sehr anders dar (37). "Information" als die allein schon statistisch alles dominierende Grundlage der "Sektenberatung" fällt in bezeichnender Weise schon im Titel des Gutachtens weg. Aus unübersehbar politischen Gründen wird die faktische, in der Regel fast 90 % der Anfragen umfassende, nur sichere "Informationen" gebende Basis ausgeblendet, die z.B. auch eine staatliche "Sektenberatungsstelle" (Anette Rühle, Berlin) so beschreibt: "Es gehe bei ihrer Tätigkeit vor allem um die 'Information', wenig um 'Beratung'. Das Thema sei 'trocken'. Dies müsse man immer wieder feststellen" (38)

Ebenso still ausgeblendet wird die Tatsache, daß bei fast allen Beratungsstellen nach allgemeiner Kenntnis zwischen 90 und 95 % der Anfragen von Angehörigen, nicht von "Sektenopfern" selbst kommen. Im Auftragsgutachten wird aber als repräsentative Größe für die Bestimmung der Grundsätze auf der Basis von 50 ausgewählten Fällen ein Verhältnis von 36 "direkt Betroffenen" zu 14 "indirekt Betroffenen", also "Angehörigen von Sektenopfern", gesetzt, völlig schief zu den tatsächlichen Anfrageverhältnissen. Dennoch wird behauptet: "Die Stichprobe umfasst 50 Beratungsfälle aus einem Zeitraum von fünf Jahren (1992-1997), die ... für das Klientel des BSW typisch sind" (39). Unübersehbar soll die Auswahl der Fälle den "Grund zu der Annahme, daß ohne 'therapeutische Beratung' der Kontakt mit bzw. die Ablösung von der weltanschaulichen Gruppierung nicht angemessen hätte bearbeitet werden können" (40), legitimieren helfen. Es wird zwar zugegeben: "Zu Beginn der Beratung wünschen sich direkt und indirekt Betroffene sachliche und fundierte Information über den involvierten Kult" (41). Doch soll dies nur der erste Schritt sein dürfen. Entscheidender ist das, was dann folgen muß, zu analysieren, "was die Kultkarriere mit den eigenen Ängsten, Bedürfnissen, Aggressionen und Defiziten verbindet" (42): "Sobald der Klient sich nach Abschluß der ersten Beratungsphase, in der der Kult im Mittelpunkt steht, den eigenen Problemen und deren Lösung zuwendet, spielt für den Fortgang des Beratungsprozesses der Kult keine Rolle mehr" (43).

Der perspektivische Sog des Enquete-Kommissions-Auftrags hat offensichtlich etwas ausgelöst, was bisher höchstens eine Nebenrolle gespielt hat: die Anwendung systemischer Therapieformen zur erfolgreichen Neutralisierung der "Sektenbeschwerden". Die Integration "systemische(r) Familientherapie im Sektenkontext" (44), erfährt im Kontext der durch das Projekt der Enquete-Kommission eröffneten politischen Möglichkeiten eine "Konjunktur" im doppelten Sinn des Wortes. Das "Sektenproblem" wird durch die therapeutische Verschreibung einfach zum Verschwinden gebracht - individuell ebenso wie in seiner Relevanz für das Kirchensystem und die Gesellschaft. Was "Sekte" ist, ist de facto einzig ein psychisches Problem: "Die Attraktivität des Kultangebots ist direkt durch die Bedürfnisstruktur der suchenden Person gekennzeichnet" (45) - nicht durch gesellschaftliche oder religiös-strukturelle Defizite im sozialen Kontext. Fast abenteuerlich mutet der Versuch des Aachener Gutachtens von 1998 dann an, neue "Beschreibungsinstrumente" zu entwickeln, die diese "Bedürfnisstruktur" mit einer "Checkliste des Therapieerfolges" (46) kombinieren. Es führte zu weit, die Ergebnisse dieses ebenso gewaltsamen wie skurilen, seitenweise mit neuen, selbst an "Sektentechnik" erinnernde "Wortklärungen" arbeitenden Versuchs (47) hier umfänglich vorzuführen. Neben dem notwendigen Hinweis auf die gerade gegenüber der eigenen theologischen Tradition völlig mißglückte Umdeutung von "Sublimieren" sei nur ein Beispiel in seiner viel zu kurzen geistigen Reichweite beleuchtet: "Projektion" z.B. wird ausschließlich negativ beschrieben: "Kultführer- und Gruppeninteressen mischen sich hier mit nicht zugelassenen Wahrnehmungen in bezug auf die eigene Person" (48). Dies trifft zwar auch zu. Die Regel ist jedoch, daß Projektion gerade im religiösen, auch "sektiererischen" Kontext eine positive Funktion hat, also nicht nur soziale "Abwehrfunktionen" erfüllt, sondern seelische Kraftverbindungen aktiviert. Es sind religiöse "Projektionen", die mit der Erfahrung des eigenen Willens, oft unterstützt durch das diese Erfahrung begleitende Körpergefühl, das Ich und damit die entscheidende Selbstbewertung der eigenen Person von den durchaus sehr negativen Erfahrungen der sozialen Umwelt befreien wollen und dies tatsächlich oft genug auch leisten. Es ist eine nicht sehr häufige, aber wenn, dann auch schöne Erfahrung, wenn eine solche positive Projektion ("der Gedanke an ... hilft mir") sogar zu einer Art existentiellen Kettenreaktion führt und viele unausgesprochene Erwartungen (und nicht selten auch stille Fürbittengebete der menschlichen Umgebung) als meist gar nicht direkt wahrnehmbare Absichten doch aufgenommen werden, das eigene Leben durch projektiv gewonnene, wie an einem unsichtbaren Geländer aufsteigende Taten ergänzen und den Betroffenen innerlich festigen.

Vollends unter Wirklichkeitsverlust geraten scheint im Aachener Gutachten von 1998 allerdings die in vieler Hinsicht rätselhaft bleibende Invektive gegen das Verständnis der Beratungsarbeit als "Seelsorge". Ist die Therapeutisierung der Weltanschauungs-Beratungsarbeit so sehr schon kollektiver Glaubensgegenstand geworden, daß man "als Kirche" wirklich sagen kann "daß weltanschauliche Beratung und Seelsorge keine identischen Aufgaben sind" (49) ? Sie sind es aber dennoch, wenn man Seelsorge in jenem ursprünglichen, mit dem Kirchenvater Klemens von Alexandrien zitierbaren altchristlichen Gedanken begreift, nach dem auch eine Kommunikation, die nicht sofort die (therapeutisch-) dogmatischen Gehalte "verkündigt" bzw. "handhabt", sondern zunächst nichts anderes als verstehen und "da sein" will, schon der wahrhafte menschliche Akt und das ganze Gleichnis der Liebe Gottes und eine Form der Religion selbst ist (50).

Statt völlig gelassene seelsorgerliche Begleitung als den geistig-konzeptionellen Rahmen auch der "Sektenberatungsarbeit" zu akzeptieren, wird hier das fixe Programm einer erfolgsbedrängten "therapeutischen Beratung" propagiert - unter vollem Wissen der angesichts der realen Datenbasis fast schwindsüchtigen Validität und der nie behebbaren Defizite, auch für Konzept, Fortbildung und "Qualitätskontrolle" jemals alle wichtigen Variablen unter wissenschaftliche Kontrolle bringen zu können. Was bleibt, ist der Eindruck eines gewaltsamen Versuchs, auch die "Sektenberatung" in einer politisch günstig erscheinenden Konstellation auf ein analog der psychosozialen Beratungsarbeit staatlich voll bezuschussungsfähiges Modell umtrimmen zu können.

In die selbe Richtung weist der die Konzeptionsarbeit der letzten Jahre im katholischen Raum zusammenfassende Text von Harald Baer über die "Mittel- und längerfristige Beratung im weltanschaulichen Bereich" Dezember 1998. Baer rechtfertigt noch einmal die Entscheidung für ein neues Verständnis der "Sektenarbeit", innerhalb dessen "der idealtypische 'Sektenberater' über die konstitutionelle Mehrfachqualifikation verfügen sollte: Das aktuelle Wissen um Inhalte, Ziele und Methoden weltanschaulicher Gruppen sollte verbunden sein mit der Beherrschung beraterischer, d.h. verkürzt gesagt, therapeutischer Techniken. Ein Gespür für religiöse Fragestellungen muß dazukommen" (51).
Baer wiederholt das neue Aachener Konzept in den Grundzügen und zieht weitere institutionspolitische Konsequenzen: "Mit der Kontaktaufnahme ist die Exploration der Ausgangslage verbunden" (52). Der "Berater" erstellt eine "Problemanalyse"; es gilt, "die zentralen Botschaften des Klienten zu erkennen, um schließlich zu einer Neubewertung von Problemen zu kommen"; das notwendige "Verstehen" kann dabei nur ein Anfang der therapeutischen "Beziehungsarbeit" sein; "zu einem späteren Zeitpunkt (muß) die Konfrontation mit jenen Aspekten des Verhaltens hinzukommen, die einen (Klienten, RZ) davon abhalten, sich über die Grenzen der bisherigen Spielräume hinaus zu bewegen"; Ziel ist "der Erfolg der theologisch-ethischen Beratung" (sic!), der entscheidende "anthropologische Vorgaben bereit(stellt)" (53), die auch die "Beratung im sogenannten Sektenkontext" zwar in einem ersten Schritt von der "Sachkenntnis des weltanschaulichen Milieus" beeinflusst weiß, aber doch so, daß sie mit der "psychologisch zu diagnostizierenden Symptomatik und existentiell-religiösen Problematik (...) eine schwer zu trennende Einheit eingehen (können)"; Baer vereinigt Beratung und Therapie, verwahrt sich dennoch freilich - gegen Roderigo - "das eine gegen das andere auszuspielen, das Religiöse als bloß vordergründig zu betrachten..." (54).

Nur die Kirche kann nach Baer, eben weil sie allein weltanschauliche Fachberatung und psychologische Therapie als "Paketlösung" zusammen anbietet, auch problemlos sozialpflegerischer Träger solcher "Beratungsarbeit" sein. Die Kirche "informiert" initiatorisch über die "Sekte", der Staat ist Kostenträger für den umfänglicheren Teil "Beratung" in der dann besonders wichtigen Beratungsarbeit, die aber auf jeden Fall ein definierter Prozeß bleibt: "Indikation" und "Evaluation" eingeschlossen. Abgesehen von der menschlich schwierigen bis unmöglichen Zumutung, diese Form der "doppelten Sektenberatung", die das bleibend Religiöse autoritativ in Therapie überführt, auf mehrere Informations-/Beratungs-Akte und Akteure zu verteilen: diese Art von Bagatellisierung des Religiösen im neuen katholischen Konzept der Sektenberatung ist nichts anderes als die zweckrationale Unterbilanzierung der religiösen Gehalte, um die "Sektenberatung" als staatlich geförderte "kirchlich-psychologisch-therapeutische Beratung" verstehen zu können: "Um dem Klienten in die Erfahrungswelt 'seines' Kultes zu folgen, ist die Kenntnis weltanschaulicher Angebote, Ausdrucksformen, Metaphern und Symbole erforderlich" (55). Wer aber so wie Baer "die notwendige affektive Hilfe" an die "therapeutischen Beratungstechniken" bindet, Religion aber auf Kognitives reduziert,muß sie am Ende verlieren.
Was hier insgesamt geschieht, taucht die letzte Ergebnis-These am Ende des Aachener Gutachtens wie ein Blitz noch einmal in helles Licht: "Im Bereich von Dienstleistungen im Sektor 'Lebenshilfe', Unternehmensberatung und Personalentwicklung fehlen Kriterien zur Beurteilung und Unterscheidung zwischen seriösen Anbietern und esoterischen wie auch Psychokult-ähnlichen Angeboten" (56). Da von vornherein festgelegt ist und als letztes Wort gilt: "Dringlicher ist jedoch die Notwendigkeit der Vermittlung von Unterscheidungs- und Qualitätskriterien zur Entwicklung persönlicher Werthaltungen" (57), braucht darüber auch gar nicht mehr nachgedacht werden: der übermächtige therapeutische Gedanke überrollt wie eine Dampfwalze automatisch jede auftauchende religiöse Problematik. In dem Lärm, mit dem dieses Konzept von "Beratungs-Therapie" im Namen der "Lebenshilfe" einen Beitrag zur gesellschaftlichen "Primär- und Sekundärprävention zu leisten" (58) verspricht, muß am meisten die Chuzpe verwundern, mit der in solcher Rollenorganisation eine sehr direkte klerikale Abschöpfung des Staates angegangen wird, die langfristig auch für die Kirche(n) nur ruinöse Folgen haben kann.
Warum dies alles? Die selben Beförderer dieser das freie Wirken der Seelsorge als den Kern der christlichen Bemühung um den Menschen zugunsten des Linsengerichtes staatlicher Zuwendungen preisgebenden Institutionen-Politik haben auch das, was die wirklich entscheidende Leistung der Enquete-Kommission hätte sein können, das Gesetz zur Regelung der gewerblichen Lebenshilfe durch den Bundestag zu bringen, vorsätzlich und trickreich zu Fall gebracht. Der Religionswissenschaftler Hartmut Zinser, Mitglied der Enquete-Kommission, hat seine Trauer am 19. Mai 1999 in Berlin auf die Formel gebracht: "Das Lebenshilfe-Gesetz ist gescheitert aufgrund des Druckes der Katholischen Kirche". Man muß es der Gerechtigkeit halber genauer sagen: Frau Marks und Herr Gasper (Zentralstelle Pastoral) vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz in Bonn tragen die wissentliche Verantwortung dafür, daß das Gesetz, das z.B. Scientologen das Auditing praktisch weggenommen und ihnen die totale Kontrolle über ihre Klientel unmöglich gemacht hätte, nicht zustandegekommen ist. Scientology hätte nach diesem Gesetz offenlegen müssen, was ihr "Auditing" ist. Es wäre in justitiabler Weise am Tage gewesen, daß hier therapeutische Maßnahmen von Laien in einer für die Betroffenen hochgefährlichen Primitivität und Rigidität vorgenommen werden - und der Staat hätte dieses "Auditing" in entscheidender Weise einschränken oder gar verbieten können. Scientology wäre praktisch "zusammengeklappt", jedenfalls auf einen ungefährlicheren Eso-Kult reduziert worden, wenn das durch das Auditing errichtete System von Ausforschung, Erpressungsmöglichkeiten durch Angst vor Aufdeckung und erzeugter Sucht der Betroffenen nach Auditing nicht mehr weiter bestehen könnte.

Die evangelische Seite war bei dieser Aktion ratloser, in hilfloser "ökumenischer" Solidarität befangener Zuschauer und Mitläufer der "Gemeinsame(n) vorläufige(n) Stellungnahme des Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche bei der Bundesrepublik Deutschland und des Kommissariats der Deutschen Bischöfe" zum Entwurf des Lebenshilfegesetzes. Gedrängt und den Text geformt hat nur die katholische Seite - mit Argumenten, die, wie Gaspers Brief an Zinser vom 23.1.98 belegt, in merkwürdiger Weise den genauen Text des Gesetzentwurfs des Bundesrates (Drucksache 351/97 vom 19.12.97) gar nicht treffen: Die kritische "Entgeltlichkeit", die sich durch die Einbeziehung leistungsabhängiger staatlicher Zuschüsse ergeben könnte, ist im Gesetzentwurf, der die Leistungsregelungen zwischen Anbieter und Klient betrifft, so überhaupt nicht problematisiert.
Man könnte also ins Grübeln kommen, was die wahren Ursachen für die Ablehnung des Lebenshilfegesetzes gewesen sind und weiterfragen, in welcher Weise das eine hier mit diesem anderen doch zusammenhängt. Aber das ist wohl ein anderes Thema.

IV.   IV. Schlußfolgerungen
SchlußfolgerungenWarum erscheint es so schwer, im Bereich der "Sektenberatung" die vorhandene Pluralität zu ertragen? Warum lassen wir die Betroffenen nicht frei entscheiden? Was soll der Zwang zu einer Zentralstelle, die "die Akte führt", "das Beratungsgeschehen kontrolliert" und "alle Fäden in der Hand hält", wie es Frau Roderigo handhaben will (Materialdienst EZW 1996, 329)? Die wenigsten unter den Betroffenen docken sich von Anfang an fest an eine einzige Beratungs- oder Informationsstelle an. Sie versuchen, bei möglichst vielen Stellen möglichst viel Information zu bekommen und sie kommen nach ihrer regelmäßigen "Info-Tournee" zu dem oder zu der Stelle zurück, der oder die ihnen menschlich am nächsten ist und in ihren Augen die größte Vertrauensfähigkeit besitzt. Diese Vielfalt ist ein Wert, der zu erhalten ist. Sie ist genauer Ausdruck und Widerschein der religiös-weltanschaulichen Pluralität und Toleranz, die auch den Staat zur Achtung der Freiheit der Person auch im Kontext der Sektenfragen zwingt. Nichts steht im Wege, daß Mitarbeiter von Beratungsstellen sich auch über "Sektenfragen" fortbilden. Sie werden dann vielleicht, so wie heute der eine oder andere "Fall" auch von den "Sektenberatern" an eine Lebensberatungsstelle vermittelt wird, umgekehrt auch Klienten an "Sektenberater" "weiterreichen". Nichts steht dem im Wege, daß auch der Staat die religiöse Entwicklung umfänglich und genau dokumentiert, wenn auch der Hiatus störend bleibt, daß im Bundesverwaltungsamt Datensammlung über den Religionssektor betrieben wird, ohne daß mindestens zugleich und in analoger Weise die religionswissenschaftliche Forschung an den Universitäten darüber verstärkt wird, die in der wissenschaftlichen Reflexion einem tendenziellen Mißbrauch der Religions-Daten ein wirksames fachliches Gegengewicht und im kritischen Fall öffentliches Gegenüber sein kann.

Entscheidend in all dem ist, daß die Freiheit der Betroffenen ebenso wie die der kirchlichen und freien "Professionals" erhalten bleibt, damit es um die Religion gehen und Menschen ohne Therapie-Zwang geholfen werden kann, die Tragfähigkeit einer mehr oder weniger ausdrücklichen religiösen Lebensperspektive für sich zu erhalten oder neu zu gewinnen. Es würde das Wesensmoment der Religion und der religiösen Bindung verkennen, wenn ausgerechnet in der "Sektenberatung" nicht die religiöse Relativierung menschlicher Ansprüche praktiziert und vermittelt werden dürfte.

Anmerkungen
1 Vgl. Deutscher Bundestag Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" (Hrsg.): Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen. Forschungsprojekte und Gutachten der Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen", 1998, bes. die Beiträge im Teil IV und im Teil V (401-525); vgl. auch Beate Roderigo: Sektenberatung als gesellschaftliche Herausforderung, in: Materialdienst EZW 1996, 324-331.
2 Christian Zwingmann, Helfried Moosbrugger, Dirk Frank: Religiosität - (k)ein Thema der deutschsprachigen Psychologie?, Arbeiten aus dem Institut für Psychologie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main, Heft 9, 1995, 10.
3 Beate Roderigo: Zur Qualifizierung von Beratungsarbeit im Spannungsfeld sogenannter Sekten und Psychogruppen: Kriterien und Strategien, in: Deutscher Bundestag Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" (Hrsg.): Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen. Forschungsprojekte und Gutachten der Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen", 1998, 457-525, hier 459 und 561.
4 Bernhard Grom:  Religionspsychologie, 1992, 369; vgl. auch Sebastian Murken: Ungesunde Religiosität - Entscheidungen der Psychologie?, in: Gritt Maria Klinkhammer, Steffen Rink und Tobias Frick: Kritik an Religionen, Marburg 1997, 157-172.
5 Vgl. Roderigo: Sektenberatung,  EZW 1996, 331.
6 Gunther Klosinski: Chance oder Risiko? Zur Bedeutung "religiöser Einflußnahme" auf Menschen mit psychischen Erkrankungen, in: Kerbe, Heft 4, 1998, 14-17, 14.
7 Wolfgang Kersting: List und Tücke der Neutralität, in: FAZ 10. Oktober 1995.
8 Roderigo: Zur Qualifizierung, aaO., 489f.; 9 Roderigo, aaO.
10 Vgl. bei Zwingmann/Moosbrugger/    Frank: aaO., 10.
11 Roderigo: Sektenberatung ..., EZW 1996, 325ff.
12 Roderigo, aaO., 327: Für sie "geht es allein um die intensive psychologische Betreuung von Menschen, die direkt oder indirekt in den Einflußbereich der sog. Sekten geraten sind und unter mehr oder weniger massiven Beeinträchtigungen ihres seelischen und körperlichen Wohlbefindens leiden".
13 Roderigo, aaO. ; 14 Roderigo, aaO., 328.; 15 Roderigo, aaO. ; 16 Roderigo, aaO. ; 17 Roderigo, aaO., 330.
18 Zum Quellen-Text vgl. die hier zitierte Fassung aus UiD 18/1998, 34f.
19 Roderigo: Zur Qualifizierung ..., aaO., 460.; 20 Roderigo, aaO., 462.
21 Roderigo, aaO.; vgl. auch aaO. 490: Die mit der "Präferenz für die weiter gefasste Definition von Sektenberatung" logisch verbundene Methode heisst: Mediation: "ein freiwilliger, vom Gericht unabhängiger Prozeß, in dem die Beteiligten übereinkommen, unter dem Beistand eines neutralen und unparteiischen Vermittlers ihre gegensätzlichen Standpunkte auszutauschen, ihre Konfliktpunkte offenzulegen, zu strukturieren, mit dem Ziel, im gemeinsamen Gespräch Alternativen und Optionen zu erarbeiten und schließlich zu einem einvernehmlichen eigenveranwortlichen Ergebnis zu kommen (Proksch, 1989)".
22 Roderigo, aaO., 464.; 23 Roderigo, aaO., 465.; 24 Roderigo, aaO., 464.; 25 Roderigo, aaO., 487f.; 26 Roderigo, aaO., 491.
27 Vgl. dazu Osservatore Romano, Deutsche Ausgabe, 26. April 1991, bes. 7-12.;  28 AaO., 8.;  29 AaO., 11.
30 Joachim Müller: Religiöse Situation und (neu)religiöse Strömungen in Europa: die europäischen Regionen - inhaltliche Schwerpunkte, in: Religioni e sette nel mondo, Heft 1/1998, 25-36, 25f.
31 Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die Macht der Entzweiung. Überlegungen zu einer Theologie des säkularen Rechts, in: NZZ, 19. Juni 1999, 53f.
32 Bischöfliches Generalvikariat Aachen, Hauptabteilung Gemeindearbeit, Referat für Sekten- und Weltanschauungsfragen: Sekten und Psychogruppen - eine Herausforderung für Kirchen, Staat und Gesellschaft. Positionen aus dem Arbeitskreis für Sekten- und Weltanschauungsfragen im Bistum Aachen anläßlich der Informations- und Diskussionsveranstaltung zum Thema Sekten und Psychogruppen am 13. März 1996 in Bonn, 2.;  33 AaO., 5.;  34 AaO., 3.;  35 AaO., 3f.;  36 AaO., 5.
37 Herbert Busch und Detlev Poweleit unter Mitarbeit von Dr. Hermann-Josef Beckers: Beratungsbedarf und auslösende Konflikte im Fallbestand des Beratungsdienstes für Sekten- und Weltanschauungsfragen im Bistum anhand von Fallkategorien und Verlaufsschemata, in: Deutscher Bundestag Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" (Hrsg.): Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen. Forschungsprojekte und Gutachten der Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen", 1998, 401-455.
38 Anette Rühle: Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Auskunfts- und Beratungsarbeit, Referat beim Berliner Oktober-Seminar 17.10.1995 Religion, Demokratie, Jugend - Jugendberatung im Bereich Jugendreligionen und Jugendokkultismus", Teilnehmer-Protokoll 1-8,1.
39 Busch/Poweleit/Beckers, aaO., 417.;  40 AaO.;  41 AaO., 423.;  42 AaO., 424.;  43 AaO., 425.;  44 AaO., 406.
45 AaO., 412.;  46 AaO., 412.,  47 AaO., 412-415.;  48 AaO., 413.;  49 AaO., 426.
50 Vgl. bei Richard Ziegert: Kirche ohne Bildung, 2.Aufl. 1998, 370f.
51 Harald Baer: Mittel- und längerfristige Beratung im weltanschaulichen Bereich, in: MD EZW 1998, 371-376, 371.;  52 Baer, aaO., 372.;  53 Baer, aaO., 373.;  54 Baer, aaO., 375.
55 Vgl. Busch/Poweleit/Beckers, Beratungsbedarf, aaO., 408.;  56 AaO., 444.;  57 AaO. ;   58 Baer, aaO., 373.

Dr. Richard Ziegert, 52, studierte Theologie, Philosophie und Pädagogik in Heidelberg und Mainz. 1972 Diplom für Diakoniewissenschaft, 1975 Promotion zum Dr. theol. mit einer Arbeit über die Rezeption der Arbeiterpriestertheologie im Kirchenverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils. Bis 1986 Pfarrer an der Pauluskirche in Ludwigshafen/Rhein und geschäftsf. Vorsitzender des Liturgischen Ausschusses seiner Landeskirche. 1987-1994 Direktor der Ev. Akademie der Pfalz. Seit 1995 landeskirchlicher Beauftragter für Weltanschauungsfragen.
Bisher letzte Buchveröffentlichung:: Kirche ohne Bildung. Die Akademiefrage als Paradigma der Bildungsdiskussion im Kirchenprotestantismus des 20. Jahrhunderts. 719 S., 2. verbesserte und erw. Aufl. Frankfurt 1998.

richard Ziegert


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