Sekten: Wie Menschen ihre Freiheit verlieren und wiedergewinnen können

Rezension von Winfried Müller

Inhalt

  1. Bibliographie
  2. Einleitung
  3. Definition von Sekten
  4. Wie Sekten funktionieren
    1. Physiologische Methoden der Beeinflussung
      1. Hyperventilation
      2. Repetitive Bewegung
      3. Eingriffe in Ernährung, Schlaf und Streßniveau
      4. Körpermanipulation
      5. Entspannungsinduzierte Angst
    2. Psychologische Überzeugungstechniken
  5. Wie können wir Sektenmitgliedern helfen, zu entkommen und zu genesen?

Bibliographie

Singer, Margaret Thaler:
Sekten: Wie Menschen ihre Freiheit verlieren und wiedergewinnen können / Margaret Thaler Singer/Janja Lalich, Übers. aus dem Amerikan. von Gabriele Kuby. Bearb. von Karl Pichler. - 1. Aufl.- Heidelberg: Carl-Auer-Systeme, Verl. und Verl.- Buchh., 1997
ISBN 3-89670-015-4

Einleitung

Mit dem vorliegenden Werk liegt nunmehr die deutschsprachige Ausgabe des Buches "Cults in Our Midst. The Hidden Menace In Our Everyday Lives", welches von der gleichen Autorin in San Francisco: bei Jossey-Bass Publishers, 1995 erschienen ist, vor.

Das Erscheinen dieses Buches in deutscher Sprache geschieht zu einem Zeitpunkt, zu dem in Deutschland das öffentliche Interesse an der Sektenproblematik durch die Aktivitäten von Scienology gegen führende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und die Bundesregierung geweckt worden ist. Es stellt ein wichtiges Ereignis in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen "Sekte" im Kontext der aktuellen Entwicklungen auf diesem Gebiet in Deutschland dar. Dem Verlag ist um so mehr zu danken, als es sich bei dem vorgelegten Werk um die Frucht eines fünfzigjährigen Forscherlebens handelt, eines Lebens, welches den Opfern von Gehirnwäsche und mentaler Programmierung, von Heilsbringern, Scharlatanen und Führern von Sekten sowie von Gruppen, die durch soziale Kontrolle und mentale Programmierung Menschen in völlige Abhängigkeit bringen, gewidmet ist.

Die Autorin ist in Deutschland nur einer Handvoll von Experten bekannt, obwohl sie durch ihre Publikationen und Beratungstätigkeit zu den weltweit anerkanntesten Forschern auf diesem Gebiet gehört. Sie ist die große alte Dame der Sektenforschung und der Anti-Cult-Bewegung in Amerika, die in ihren Arbeiten nicht müde wird, darauf hinzuweisen, daß Sekten ... durchaus keine Randerscheinung ...[a.a.O. S. 21] sind und daß die ... Probleme, mit denen uns solche Gruppen konfrontieren, ... die grundlegenden Probleme unden mit einem massiven Gruppendruck, der bis zur Ausübung von Gewalt gehen kann, aufbaut. Der Gebrauch von sozialem und psychologischem Druck, die Isolation des Neuankömmlings von seiner Vergangenheit und die Untergrabung seines Selbstbewußtseins gehören zum Standartrepertoire manipulativer Beeinflussung. Dabei spielt die Täuschung über die wahren Ziele der Gruppe eine bedeutende Rolle.

Ob das verborgene Ziel mittels plumper Täuschung bei der Anwerbung oder vieler kleiner Täuschungen im Laufe der Zeit angestrebt wird, spielt keine Rolle. Die verborgene Zielsetzung ist auch das, was Sekten von anderen Gruppen unterscheidet, die sich um Mitglieder bemühen, wie Schulen, Kirchen, Militär und Verbände. Sekten wissen, daß Sie niemals Mitglied werden würden, wenn Sie von vornherein wüßten, auf was Sie sich einlassen und was man mit Ihnen vorhat. So einfach ist die ganze Sache. [a.a.O. S. 156]

Sekte sei ... letzlich nur ein Werkzeug im Dienst der Bedürfnisse, der Launen und der verborgenen Ziele des Führers. Die Ideologie hat eine Doppelfunktion: Sie ist der Kleber, mit der die Mitglieder an die Gruppe gebunden werden, und ein Werkzeug, das vom Führer dazu mißbraucht wird, seine Ziele durchzusetzen. [a.a.O. S. 43] Der Schaden, der von diesen Sektenführern angerichtet werde, beträfe nicht so sehr den ideologisch-religiösen Bereich als vielmehr die Integrität der Persönlichkeit des Individuums.

In vier Kapiteln umreißt Margret Singer ihren Forschungsgegenstand, indem sie ausgehend von einer Definition von Sekten über einen zwanzigseitigen historischen Abriß sich den Fragen von Gehirnwäsche, psychologischem Zwang und mentaler Programmierung zuwendet, um am Schluß die Frage zu stellen, was an Sekten schlimm sei.

Definition von Sekten

Die Autorin verwendet den Sektenbegriff nicht so sehr im Sinne einer religionsphänomenologischen Beschreibung, sie spricht vielmehr von "Sektenbeziehung", um die in solchen Gruppen ablaufenden Interaktionsprozesse zu beschreiben. Dabei kennzeichnet sie diese Sektenbeziehung darin, daß ... eine Person bewußt und gezielt auf andere einwirkt, um sie in allen wichtigen Lebensentscheidungen vollständig oder beinahe vollständig von sich abhängig zu machen, und die Anhänger glauben macht, sie verfüge über eine besondere Gabe oder außergewöhnliches Wissen.[a.a.O. S. 3] Hierbei sieht sie die Faktoren

als wesentlich an.

Wer je in der Lage war, das Phänomen Sekte definieren zu müssen, der wird den Ansatz von Margret Singer begrüßen, bietet er doch die Möglichkeit, sich den Vorgängen in einer Sekte systematisch zu nähern. Dadurch, daß sie den Interaktionsprozeß zwischen Sektengruppe und Individuum herausarbeitet, bietet sie der Forschung die Möglichkeit, sektiererische Abhängigkeiten über die Fachgrenzen hinaus zu bearbeiten. Mit Recht verweist die Autorin darauf, daß nicht die Glaubensinhalte einer Sekte von Bedeutung sind, sondern die Art des Interaktionsverhältnisses von Gruppenführer, Gruppe und Individuum.[vgl. a.a.O. S. 34f.] Hiermit stützt sie auch die Erfahrung deutscher Ausstiegsberater und Sektenexperten, die im Laufe ihrer Arbeit immer wieder mit sektiererischen, aber nichtreligiösen Gruppen konfrontiert werden. So kann man mit dem methodischen Rüstzeug von Margret Singer auch ohne Probleme die Wirtschafts- und Managementtrainingsgruppen bearbeiten, die sich bisher mit religionswissenschaftlichem Handwerkszeug nicht bearbeiten ließen.

Eine Sekte kann sich um jede Art von Inhalt bilden, sei es Politik, Religion, Handel, Selbstvervollkommnungs-Techniken, modische Gesundheitsrezepte und -artikel, Science-fiction, Psychologie, Weltraumphänomene, Meditation, asiatischer Kampfsport, Öko-Lebensstil und so fort. Die Fehleinschätzung, alle Sekten seien religiös, hat jedoch zur Folge, daß vielen nicht klar ist, welch unterschiedliche Inhalte Sekten vertreten können, und daß nicht wahrgenommen wird, wie sehr große und kleine Sekten in unserer Gesellschaft schon verbreitet sind. ... Ein Rattenfänger, der über genügend Entschlossenheit, ein bißchen Charme, Charisma und Verführungskunst verfügt oder einfach nur ein guter Verkäufer ist, kann bei ausreichendem Einsatz von Zeit und Mühe für so gut wie jedes Thema Anhänger gewinnen. Egal, welche Art von Sekte er aufzieht, einem Sektenführer gelingt es immer, traurige, einsame und alleinstehende Menschen an sich zu binden, er hat aber auch Erfolg bei Personen, die einfach nur einer Einladung Folge leisten, weil sie in ihrem Leben gerade mit einer Verletzung fertig werden müssen. [a.a.O. S. 41]

Inhaltlich gliedert Margret Singer die Sektenwelt in zehn Kategorien:

  1. neuchristlich-religiöse Gruppen
  2. hinduistische und östlich-religiöse Gruppen
  3. okkulte Gruppen, in denen Hexen- und Satanskult betrieben wird
  4. spiritualistische Gruppen
  5. von Zen und anderen chinesisch-japanischen philosophisch-mystischen Orientierungen beeinflußte Gruppen
  6. rassistische Gruppen
  7. an UFOs und anderen Weltraumphänomenen interessierte Gruppen
  8. psychologische und psychotherapeutische Gruppen
  9. politische Gruppierungen
  10. Selbsthilfegruppen, Gruppen zur Selbstvervollkommnung und Lebensstil-Gruppen.

Sie weist aber daraufhin, daß diese Kategorisierung nach Inhalt und Zielsetzung der jeweiligen Gruppe nur ein formales Kriterium darstellt, denn jede Sekte sei ... letzlich nur ein Werkzeug im Dienst der Bedürfnisse, der Launen und der verborgenen Ziele des Führers. Die Ideologie hat eine Doppelfunktion: Sie ist der Kleber, mit der die Mitglieder an die Gruppe gebunden werden, und ein Werkzeug, das vom Führer dazu mißbraucht wird, seine Ziele durchzusetzen. [a.a.O. S. 43] Der Schaden, der von diesen Sektenführern angerichtet werde, beträfe nicht so sehr den ideologisch-religiösen Bereich als vielmehr die Integrität der Persönlichkeit des Individuums. Die Gefahren, die von Sekten ausgehen und der Schaden, den sie anrichten sind ... letztlich auf die Methoden der mentalen Programmierung zurückzuführen, mit denen geschickte Manipulateure bei ihren Anhängern Unterwürfigkeit und Gehorsam erzeugen. [a.a.O. S. 43]

Diese Art der fast vollständigen Abhängigkeit gestandener Persönlichkeiten von einem "Führer" ist es, die betroffene Angehörige von Sektenmitgliedern, aber auch die Öffentlichkeit immer wieder beschäftigt. Ich bekomme bei meinen Vorträgen auch immer wieder die Frage gestellt, wieso denn "normale" Menschen einen solchen Unsinn glauben können. "Mich könne niemand dazu bringen, so etwas zu glauben!" sagen sie. Ehe ich mich in meiner Beantwortung dann den psychologischen Zusammenhängen zuwende, mache ich immer einen zugegeben banalen, aber doch wirksamen Versuch:

Ich greife mir aus dem Publikum zwei oder drei Personen heraus und sage ihnen, ohne daß es die anderen hören, ich würde dem Publikum jetzt eine Frage stellen, die es mit dem Wort "lila" beantworten wird. Ich würde das Auditorium so manipulieren, daß es mir in der Beantwortung meiner Frage willfährig sei. Danach sage ich den Anwesenden: "Ich werde Sie jetzt mit einem Satz konfrontieren, aus dem ich eine Frage ableiten werde, deren Beantwortung ich den zwei oder drei Freiwillen vorher vorausgesagt habe." Daraufhin sage ich den Satz: "Die zarteste Versuchung ..." um gleich die Frage: "An welche Farbe denken Sie?" hinterher zu schieben. Natürlich antwortet das Publikum, in Anlehnung an die bekannte Milka-Reklame, fast einhellig: "Lila!" Von den Freiwilligen wird dann bestätigt, daß ich ihnen vorher gesagt hätte, ich würde das Publikum durch einen manipulativen Trick dazu bringen, daß es auf meine Frage mit "lila" antwortet. An diesem Beispiel zeige ich dann, daß jeder Mensch manipulativ beeinflußbar ist, es kommt nur darauf an, sich der notwendigen Aufmerkamkeit der Zuhörer zu versichern.

Wir wissen aus der Literatur und den Erfahrungen der Sektenausstiegsberater, daß etwa zwei Drittel der Mitglieder in Sekten vor ihrer Sektenmitgliedschaft ein altersgemäßes Verhalten an den Tag legten und nicht ernsthaft gestört waren. Warum Menschen, die scheinbar gesund und normal sind, sich plötzlich von einem Tag auf den anderen einer skurrilen Sekte anschließen, beantwortet Margret Singer wie folgt und belegt das auch anhand von Beispielen:

Ich selber habe festgestellt, daß es vor allem zwei Bedingungen sind, die eine Person für die Anwerbung durch eine Sekte besonders anfällig machen, nämlich Depressionen und Übergangssituationen [a.a.O. S. 49]

Sie macht hier auf Bedingungen aufmerksam, die wir im täglichen Leben sehr oft nicht sehen oder verdrängen, die aber im Leben eines jeden, zwar mit unterschiedlicher Intensität, doch zum normalen Erleben gehören. Wer von uns war noch nie niedergeschlagen? Wer hat noch nie unter dem Verlust eines nahen Angehörigen oder Freudes gelitten? Wer hatte noch nie Liebeskummer? Wer wurde noch nie von einem Freund enttäuscht, verraten oder gekränkt? Wenn in solch einer Zeit des Niedergeschlagenseins jemand kommt, der Wärme und Zuneigung suggeriert, dann ist wohl jeder gern bereit, in die scheinbar offene Hand einzuschlagen, diese Hand festzuhalten. Wenn sich dann später herausstellt, daß diese scheinbar so offene Hand von jemandem ausgestreckt wurde, der die momentane Unsicherheit erkannt und benutzt hatte, Macht und Herrschaft über einen zu erlangen, dann kommen zu dieser Erkenntnis noch Scham und Selbstvorwürfe hinzu. Diese Gefühle verhindern nach unserer Kenntnis dann aber wieder die Betroffenen, einen Schlußstrich unter solche Abhängigkeit zu ziehen. Wir wissen aus dem Umgang mit ehemaligen Sektenmitglieder und betroffenen Angehörigen, daß Sektenmitglieder in der Regel ohne fremde Hilfe aus diesem Teufelskreis von Abhängigkeit, Scham und Selbstvorwürfen alleine nicht mehr herausfinden.

Hinzu kommt noch, daß die Öffentlichkeit nur zu gerne bereit ist, dem Opfer auch die Schuld für seine Situation zuzuschreiben. Die Schuldzuweisung an das Opfer ist eine nahezu überall anzutreffende Reaktion, wenn anderen Unglück zustößt. So wird Frauen, die vergewaltigt werden, oft die Schuld zugeschoben. Warum, so fragen die Leute, hat sie auch ein kurzes Kleid getragen, war nach zehn Uhr abends auf der Straße oder befand sich in einem Stadteil, in den sie nicht hätte gehen sollen? [a.a.O. S. 54]

Alle diese Faktoren tragen dazu bei, daß einem Sektenopfer der Ausstieg so schwer wird. Natürlich weiß das Opfer, daß es einen Fehler gemacht hat, es fühlt sich mies und niedergeschlagen, und hat Angst, daß dieser Fehler bei einem eventuellen Ausstieg dann in der Öffentlichkeit schonungslos diskutiert wird. Und wer blamiert sich schon gerne vor aller Augen? ...

Die Autorin weist immer wieder darauf hin, daß Sektenführer, aber auch Demagogen um diese Gefühle bei ihren Opfern wissen. Sie nutzen das schamlos aus, um ihren "Anhängern" den Ausstieg so schwer wie möglich zu machen. Margret Singer widmet der Erläuterung dieser Situation ein ganzes Kapitel in dem sie in einem historischen Abriß am Beispiel konkreter Sekten dem Leser deutlich macht, wie das seit über 150 Jahren immer wieder hervorragend klappt, wie die Verkäufer von Sehnsüchten Menschen in den Abgrund gezogen haben.

Sekten sind, so hat sich gezeigt, Variationen über ein Thema, und ihr sich ständig wandelnder Sprachgebrauch ist ein Zeichen ihrer Anpassungsfähigkeit an den Zeitgeist. Aber wie im griechischen Mythos die einen Segler vom Gesang der Sirenen in den Abgrund gezogen wurden, wurden andere, denen Odysseus die Ohren verstopft hatte, gerettet. Wir müssen auf der Hut sein vor verheißungsvollen Schlagwörtern, die den Arglosen in ihren Bann schlagen. Wir müssen wissen, wann Worte, die in uns die Sehnsucht wecken, jemandem zu folgen, ein Gesang der Sirenen sind.

Dieser Gesang der Sirenen, der den Arglosen in den Abgrund reißt, ist heute ein Konzert, bestehend aus Gehirnwäsche, psychologischem Zwang und mentaler Programmierung. Margret Singer arbeitet in zwei Kapiteln [vgl. S. 82 -- 134] heraus, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, welche Methoden angewandt werden und was an Sekten so schlimm ist. Neben Persönlichkeitsveränderungen, Geldgier, Leid und Krankheit, sei der Totalitarismus die größte Gefahr, die von Sekten ausginge.

Mit den Sekten dringen -- in unterschiedlichsten Verkleidungen -- totalitäre Sozialstrukturen in unserer Gesellschaft vor. Dies sollte nicht nur für die Sozialwissenschaft von Interesse sein, sondern auch für ganz normale Bürger, denen ihre Freiheit am Herzen liegt.

Dem ist wohl angesichts der aktuellen Entwicklungen in Deutschland nichts mehr hinzuzufügen. Aus diesem Grunde versuchen die Sektenexperten Deutschlands in ihrer Arbeit die Welt der Sekten nicht als Kaleidoskop der Merkwürdigkeiten zu sehen, wie das leider immer wieder in laienhaften Mediendarstellungen geschieht [Man verfolge in diesem Zusammenhang die Behandlung des Sektenthemas und der Esoterik in den verschiedenen Talkshows vieler Fernsehstationen!]. Wenn Sekten unter dem Tarnmantel seriöser Trainingsprogramme statt Fähigkeiten auszubilden und Wissen zu vermitteln, Methoden der mentalen Programmierung anwenden, um neue Mitglieder zu werben und Geld zu machen, dann geht das jeden in unserer Gesellschaft an. Unsere Aufmerksamkeit sollte sich nicht so sehr auf die Glaubensinhalte der Gruppe oder die "Firmenphilosophie" richten, als vielmehr darauf, welche Verhaltensweisen die Personen an den Tag legen, die unter dem Einfluß solcher Gruppen stehen. Werden Bürgerrechte verletzt, wird betrogen und manipuliert unter dem Motto: "Der Zweck heiligt die Mittel!" dann ist es Zeit, die Stimme zu erheben und solchem Treiben ein Ende zu machen. Dabei ist es dann gleichgültig, ob sich eine Gruppe selbst als "Religion" bezeichnet. Wenn sie sich nicht wie eine Religion verhält, dann verdient sie diesen Titel nicht!

Wie Sekten funktionieren

Auf fast 150 Seiten arbeitet Margret Singer die Mechanismen heraus, die Sekten am Leben erhalten. Die Rekrutierung neuer Mitglieder, die physiologischen Methoden der Beeinflussung und die psychologischen Überzeugungstechniken lassen diese Gruppen in unsere Arbeits- und Lebenswelt eindringen, führen aber auch zu Drohungen und Einschüchterungen aller derer, die sich kritisch mit deren Machenschaften auseinandersetzen.

Am Anfang einer Sektenmitgliedschaft steht der erste fatale Schritt. [a.a.O. S. 143f.] Werber filtern aus der Menge ihrer Zielgruppe mit Charme und Schmeichelei die heraus, die arglos, interessiert, verletzlich und vielleicht auch in einer aktuellen seelischen Umbruchsituation sind. Sie laden sie ein, bildlich gesprochen, sie öffnen ihre Arme weit, um das Opfer später dann um so fester zu umklammern. Diesem ersten Schritt folgt dann der erste Kontakt mit der Sekte, bei dem der Neuankömmling mit Freundlichkeit und Aufmerksamkeit gleichsam überschüttet wird: Es wird bei ihm das Gefühl induziert, man tue alles nur um seinetwillen. Das löst ein Gefühl der Dankbarkeit aus, auf dem dann die weitere Programmierung durch die Führer der Gruppe, verb. [a.a.O. S. ?] Diese Art der fast vollständigen Abhängigkeit gestandener Persönlichkeiten von einem "Führer" ist es, die betroffene Angehörige von Sektenmitgliedern, aber auch die Öffentlichkeit immer wieder beschäftigt.

Physiologische Methoden der Beeinflussung

Es ist seit langem bekannt, daß bestimmte Techniken, vorhersagbare physiologisch Reaktionen hervorrufen. Dazu zählen Hyperventilation, repetitive Bewegung, Eingriffe in Ernährung, Schlaf und Streßniveau, Körpermanipulationen und enspannungsinduzierte Angst.

Hyperventilation

Dieser Zustand einer Übersättigung des Blutes mit Sauerstoff führt zu einem Abfall des Kohlendioxydspiegels im Blut, was zu einem Überschuß an Alkali im Blut führt. Die Folge ist eine respiratorische Alkalose, die in milder Form zu Schwindelgefühl und Benommenheit bis zu einem rauschähnlichen Zustand in schweren Fällen führt, der über krampfartige Schmerzen und Herzrhytmusstörungen in einer Ohnmacht münden kann. Diese Symptome sind beispielsweise Bergführern wohlbekannt, die ungeübte Touristen auf Bergwanderungen im Hochgebirge führen. Von den Sektenführern werden diese Symptome dadurch herbeigeführt, daß sie die Gruppe lang anhaltend laut singen und schreien lassen. Die Symptome der Hyperventilation werden aber nach Abklingen der Symptome als "Gottensnähe" oder "wahre Gefühle" gedeutet, was natürlich blanker Unsinn ist.

Repetitive Bewegung

Langanhaltende Schaukelbewegungen, verbunden mit monotoner Musik, wie das beispielsweise bei bestimmten hinduistischen Sekten praktiziert wird, führt zu einem veränderten Bewußtseinszustand. Das kann im Extremfall zu einer Extase führen, die dann in tiefer Trance endet.

Eingriffe in Ernährung, Schlaf und Streßniveau

Werden die Ernährung, der Schlafrhytmus und das allgemeine Streßniveau einer Person plötzlich verändert, treten vorhersagbare physiologische Reaktionen auf. Auftretende Magen--Darmstörungen werden dann von den Sektenführern als "Satan im Leib" gedeutet, den es auszutreiben gilt. Einige Gruppen, besonders hinduistische und östlich--religiöse Gruppen verlangen von ihren Mitgliedern eine einseitige vegetarische Ernährung. Das führt zum Eiweiß-Mangelsyndrom und hormonellen Veränderungen. Gerade das ist besonders bei Mitgliedern von Hare Krishna oft zu beobachten. Andere Gruppen setzen exzeßhaften Saunabesuch, Einläufe und extreme Vitamingaben ein, um den Stoffwechsel der Mitglieder zum Entgleisen zu bringen. Der hieraus folgende Zustand des Unwohlseins und der Körperveränderungen wird dann von den Führern als Beweis ihrer Lehre interpretiert.

Körpermanipulation

Einige Gruppen verwenden Körpermanipulationen, um Schmerzen zu erzeugen. Diese Schmerzen werden benutzt, die Mitglieder auf die Lehren des Führers zu konditionieren. "Ohne Schmerz kein Fortschritt!"

Entspannungsinduzierte Angst

Aus religiöser Praxis der Meditation ist schon seit Jahrhunderten bekannt, daß Meditierende auch schlimme Angst erleben können. Statt Entspannung kann immer auch furchtbare Angst auftreten. In der seriösen Meditation wird dann durch den Meister diese sofort abgebrochen, um unerwünschte Symptome zu vermeiden. Sekten nutzen das aber aus, um ihre Anhänger zur Abhängigkeit zu konditionieren. Diese Symptome werden als Entstessungssymptome interpretiert, denen man, so sagen diese Quacksalber, nur durch weitere intensivere Meditation begegnen könne.

... Jahrhundertelang wurden Meditationsübungen innerhalb eines spezifischen aus Wissen und Glauben zusammengesetzten Weltbildes gelehrt. Im Gegensatz zu diesen altehrwürdigen Traditionen, in denen verantwortliche Lehrer ihre Schüler individuell geführt haben, so daß schädliche Wirkungen vermieden werden konnten, wird Meditiation heute als Ware auf dem Massenmarkt angeboten. Wie die Beispiele gezeigt haben, birgt die Massenanwendung eines Prozesses, der bekanntermaßen destabilisierende emotionale Wirkungen haben kann, Gefahren für den einzelnen. Aber wie es in Sekten üblich ist, denkt der Führer nur an sich und seinen Erfolg ("Millionen praktizieren meine Meditationstechnik") und ignoriert die schädlichen Wirkungen auf bestimmte Anhänger [a.a.O. S. 180]

In diesem Kontext ist es auch zu verstehen, warum die Enquete-Kommission des Bundestages, die sich mit dem Einfluß der Sekten in Deutschland befaßt, einen Verbraucherschutz für die Verbraucher psychologischer und meditativer Techniken fordert. Meditation ist ein mächtiges Werkzeug. In der Hand des Verantwortlichen und Erfahrenen kann es hilfreich sein und inneren Frieden stiften, aber in der Hand des Gewissenlosen wird sie zur furchtbaren, persönlichkeitszerstörenden Waffe.

Psychologische Überzeugungstechniken

Sekten arbeiten mit einem Bündel von psychologischen Überzeugungstechniken, die hochwirksam sind, aber in der Hand des gewissenlosen Quacksalbers zu einer Gefahr werden. Trance, Hypnose, Revision der persönlichen Lebensgeschichte, emotionale Manipulation und Gruppendruck -- das sind die Mittel, um Macht über Persönlichkeiten zu erlangen. Margret Singer weist im Anschluß an Robert Cialdini darauf hin, daß jedes Individuum dazu neigt, sich in fixierten Verhaltensmustern zu bewegen. Diese Verhaltensmuster stellen eine Art "gelerntes Sozialverhalten" dar, mit dem wir uns in der Welt bewegen. Werden diese Verhaltensmuster nun von Manipulateuren mißbraucht, so bemerkt das der Betroffene kaum.

Nach Cialdini kann man den größten Teil der unzähligen verschiedenen Taktiken, mit denen die professionellen Manipulateure arbeiten, sechs Kategorien zuordnen, von denen jede auf einem psychologischen Prinzip beruht, das das menschliche Verhalten steuert. Diese sechs Prinzipien sind folgende:

  1. Konsistenz: Wir versuchen unser früheres Verhalten zu rechtfertigen.
  2. Reziprozität: Wenn uns jemand etwas gibt, dann versuchen wir, in derselben Münze zurückzuzahlen.
  3. Außenorientierung: Wir versuchen festzustellen, was andere Leute für korrekt halten.
  4. Autorität: Wir haben ein tiefsitzendes Pflichtgefühl gegenüber Autoritätsfiguren.
  5. Zuneigung: Wir gehorchen Menschen, die wir mögen.
  6. Knappheit: Wenn wir etwas haben wollen, kann man uns Angst machen, es könnte weg sein, wenn wir zu lange warten. Die Gelegenheit, es zu bekommen, kann vorbei sein. Wir wollen es jetzt -- was immer das Angebot sein mag, von einem beliebigen Gegenstand bis zu kosmischem Bewußtsein.

An Beispielen belegt die Autorin nun die Wirksamkeit dieser Mechanismen, um dann in den letzten beiden Kapiteln des zweiten Teiles des Buches sich dem Eindringen von Sekten in die Arbeitswelt und dem Thema der Drohung und Einschüchterung der Sekten gegenüber Kritikern zuzuwenden. Besonders dankbar wird der Leser zur Kenntnis nehmen, daß Margret Singer dem Eindringen von Sekten in die Arbeitswelt ein besonderes Kapitel widmet, wobei sie besonders das Gebiet der Managementkurse im Blick hat. Die Notwendigkeit hierzu leitet sie aus folgendem ab:

  1. Es gibt Angebote, die "motivieren oder transformieren" wollen, wobei unklar bleibt, was hierunter genau zu verstehen ist.
  2. Es soll darauf aufmerksam gemacht werden, daß gewisse Trainingsprogramme die gleichen Methoden der intensiven Beeinflussung benutzen wie Sekten.
  3. Die Lebensphilosophie, die von vielen dieser Programme vertreten wird, berührt religiöse und persönliche Glaubensfragen.
[vgl. a.a.O. S. 218ff.]

Dabei wird oft so getan, als ob das in solchen Programmen angebotene dümmliche New-Age-Geschwafel das Modernste vom Modernen sei. Wenn dann noch Chefs ihre Machtposition gegenüber ihren Angestellten ausnutzen, um diese zu solchen Kursen zu schicken, dann wird das Problem vollends deutlich.

So ist der Arbeitsplatz zu einer Arena geworden, wo mehrere soziale und psychologische Phänomene zusammentreffen: Die New-Age-Bewegung, das Streben der Wirtschaft, auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu sein, und die Neigung unserer Nation, an Selbstvervollkommnung zu glauben. Diese Situation machen sich gewisse Sekten zu nutze, um in die Arbeitswelt einzudringen. [a.a.O. S. 223]

An Fallbeispielen und konkreten Gruppen stellt die Autorin dar, wie sich aus der Teilnahme an solchen Trainings psychische Zusammenbrüche, Entgleisungen und massive Streßsymptome ergeben können. Der Protest richtet sich nicht gegen echte berufsbezogene Fortbildungsprogramme, sondern dagegen, daß Arbeitnehmer ohne ihre Zustimmung zu Trainings abgeordnet werden, die sie nicht ihre berufliche Arbeit ausbilden, sondern ihre religiösen und persönlichen Überzeugungen erschüttern und ihre Persönlichkeit, ja ihr innerstes Selbst attackieren und schädigen. [a.a.O. S. 248]

Die wachsende wirtschaftliche und finanzielle Potenz von Sekten führt in der Gegenwart dazu, daß diese Gruppen sehr wohl in der Lage sind, Kritiker zum Schweigen zu bringen. Jeder, der auf dem Gebiet der Sektenprävention und der Ausstiegsberatung arbeitet, hat schon mit Repressalien und Drohungen zu tun gehabt. So führen bestimmte Sekten Prozesse, nicht um zu gewinnen, sondern um Zeit und Geld bei den Kritikern zu binden. Verlage, die kritische Literatur verlegen, werden in teure Prozesse verwickelt.

In manchen Fällen sind Bücher über Sekten nur deswegen erschienen, weil Verleger und Autoren finanziell in der Lage waren, sich dem Versuch gewisser Sekten zu widersetzen, die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen zu hintertreiben. Viele der großen internationalen Sekten verfügen über fast unbegrenzte finanzielle Mittel und die Macht, Verleger, Zeitungen, Fernsehproduzenten, akademische Forscher, Fachkräfte und jeden anderen einzuschüchtern, der öffentlich gegen Sekten Stellung nimmt. Wenn es Sekten und ihren Sympatisanten gelingt, die Veröffentlichung von wissenschaftlichen Studien über ihre Gruppen und die Biographie ihrer Führer und offene kritische Anmerkungen von Sozialwissenschaftlern zu blockieren, dann werden die Sekten selbst zu Schiedsrichtern darüber, was die Welt erfahren darf. Ohne eine freie Presse, wissenschaftliche Veröffentlichungen, offene kritische Stellungnahmen und ohne die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung sind wir alle der Willkür von Sektenführern ausgeliefert, die darüber bestimmen, was wir lesen, was wir sagen, was wir denken dürfen. Orwells 1984 könnte dann Wirklichkeit werden.

Gerade auf diesem Gebiet toben zur Zeit in ganz Europa erbarmungslose Kämpfe. Margret Singer ist von einem sympatischen Optimismus geprägt, daß Ehrlichkeit, berufliche Verantwortung und Integrität in den meisten Fällen die Oberhand behalten wird. Dem können wir nur zustimmen. Doch es ist auch klar, daß das nicht ohne Kampf und Rückschläge geschieht. Je mehr Menschen sich dem totalitären Machtwahn sektiererischer Demagogen widersetzen, um so freier kann seriöse Forschung und Meinungsäußerung leben.

Wie können wir Sektenmitgliedern helfen, zu entkommen und zu genesen?

Margret Singer widmet diesem Thema über einhundert Seiten ihres Buches. Aus ihrer jahrzehntelangen Beratungspraxis schildert sie dem Leser die Schwierigkeiten aber auch die Erfolge der Ausstiegsberatung. Ein besonderes Gewicht widmet sie den Kindern, die als unschuldige Opfer in Sekten mißhandelt und manipuliert worden sind. Sie sind Opfer der hemmunglosen Phantasien und Begierden der Führer. Eine Sekte ist ein Spiegel der Innenwelt des Führers. Er kennt keine Schranken. Er lebt seine Phantasien und Begierden in der Welt, die er um sich herum schafft, hemmungslos aus. Er weiß, wie er die Menschen dazu bringen kann, ihm hörig zu werden. [a.a.O. S. 293f.]

Dabei schildert sie die erschütternden Biographien geschundener Kinder, die außer der Sektenwelt nichts kennengelernt haben. Die, wenn sie dann aus diesem Ghetto herausgekommen sind, sich in der realen Welt nicht mehr zurechtfinden. Innerhalb der Sekten war es in Ordnung, Nichtmitglieder zu belügen und zu täuschen, und nun sollen sie auf einmal ehrlich sein? Margret Singer weis, daß Ausstiegsberatung bei Kindern eigentlich das Nachholen eines Erziehungsprozesses von zehn, zwölf Jahren im Schnelldurchlauf ist. Hier treten Probleme auf, die auch die Fachleute nur mit Mühe meistern können. Sie sagt: "Sektenkinder sind Überlebende!" Das gilt aber nicht nur für die Kinder, sondern für alle Aussteiger.

Die Gründe, warum Sektenmitglieder nach einer kürzeren oder längeren Zeit der Mitgliedschaft wieder aussteigen sieht Margret Singer in drei Punkten:

  1. Die Widersprüche zwischen Individuum und Sekte werden so groß, daß sie nicht mehr ignoriert werden können.
  2. Manche Mitglieder werden von der Sekte ausgestoßen.
  3. Durch Familienintervention und Ausstiegsberatung wird das Mitglied aufgeklärt. Gleichzeitig erhält es den moralischen Rückhalt den Ausstieg auch durchzustehen.

Ist der Prozeß des Ausstieges einmal in Gang gesetzt, dann bedarf das ausgestiegene Mitglied professioneller Hilfe. Sprach man früher von "Deprogramming", so verwendet die Autorin lieber den Begriff "Ausstiegsberatung", der viel besser deutlich macht, worum es bei diesem Prozeß geht: Der Hilfe zur Selbsthilfe. Eins stimmt den Leser immer wieder optimistisch, daß die Autorin aus ihrer Erfahrung immer wieder berichtet, wie erfolgreich ein solcher Ausstiegsprozeß in der Regel ist. Sie weiß darum, daß die in der Sekte erworbene Pseudopersönlichkeit eben nur angelernt ist, sie wird verschwinden, sobald das Mitglied aus der Sektenumgebung entfernt worden ist. Dabei sieht sie natürlich, daß dieser Prozeß für die Betroffenen sehr schmerzhaft und teilweise auch sehr dramatisch verläuft. Gerade deswegen ist Hilfe von Spezialisten notwendig.

Margret Singer schließt ihr Buch mit einer Hommage an die Opfer von Sekten. All die Menschen, mit denen ich gearbeitet habe, die in Sekten hineingegangen und wieder herausgekommen sind und die Erfahrungen durchlebt haben, welche ich in diesem Buch beschrieben habe, gehören zu den inspirierendsten Menschen, denen ich begegnet bin. Sie wollten sich selbst besser machen und sie wollten die Welt besser machen. Sie waren altruistisch, fürsorglich und hilfsbereit, uns sie wurden betrogen -- denn sie glaubten einem Scharlatan. Mich begeistert, daß Menschen den Absprung geschafft haben, nachdem sie zu ihrer bitteren Enttäuschung feststellen mußten, daß ihr Führer sie belogen hat, Kokain von dem Geld gekauft hat, das sie auf den Straßen erbettelt haben, Kinder mißbraucht und Feinde ermordet hat, und daß nichts von dem, was sie in der Sekte tatsächlich taten, irgend etwas mit den ursprünglichen hohen Zielen zu tun hatte.

Ich kann nur hoffen, daß dieses Buch eine zahlreiche Leserschaft findet und daß auch in Deutschland die Zahlen der Aussteiger so groß werden, daß unser Land kein Nährboden für Gurus und Scharlatane mehr ist.