3. Das Entwicklungs - und Sozialisationsmodell Fröbels

"Lebenseinigung"

Für Friedrich Fröbel bedeutete das "sinnige, entwickelte Spiel", das kindliche Tätig- sein, ein "natürliches Verhältnis von Eltern zum Kind und umgekehrt", ein Verhältnis, das für beide Seiten eine Einigung hervorbringt, gegenseitiges Verständnis erzeugt.

"Das Spiel recht erkannt und recht gepflegt einigt das keimende Kindesleben achtend und anerkennend mit dem reifen Erfahrungsleben der Erwachsenen, und fördert so eines durch das andere, wie es beide ehren, jedem seine Pflichten gibt, seine Rechte sichert." 1)

Und weiter unten ist zu lesen

"Wie das Spiel die Gliederung des einigen Lebens fördert, so bewirkt es die Einigung des gegliederten und mannigfaltigen Lebens, das Spiel bewirkt also recht erkannt und gut geübt, wie Selbsterkenntnis, so Einheits- und Allkenntnis . . . " 2)

Das Kind wird in eine Gemeinschaft hinein geboren und wächst in dieser auf. Die Gemeinschaft trägt Verantwortung dafür, wie sich dieses noch hilflose Geschöpf, das, wie Fröbel in seiner Menschenerziehung sah, als Säugling das Leben einsaugt, auf der Kindstufe den Umgang im Leben verinnerlicht. Fröbel zitierte dazu in seinem Hauptwerk einen großen deutsche Denker - Moses Mendelsohn (1782),

"daß es ein größerer Schritt sei von einem Säugling bis zu einem sprechendem Kinde, als von einem Schulknaben zu einem Newton." 3)

Dazu braucht es den Erwachsenen als Vermittler, als Partner, der dem Kind einen an dessen intellektuelles Niveau bereits bestehenden Erfahrungswelt und den individuellen Handlungsmöglichkeiten angepaßten Tätigkeitsspielraum verschafft, einen Handlungs-, Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum. Das Kind wird in dieser kommunikativen Gemeinschaft lernen, sich in sozialen Strukturen zu bewegen und zweckmäßige Verhaltenmodelle aus dieser Gemeinschaft nachzuahmen. Daraus ergibt sich unübersehbar eine hohe Verantwortlichkeit des Erwachsenen für die Einigwerdung des Kindes mit dem späteren Leben. Das Kind will tätig werden und tut, so Fröbel, vorerst nichts aus Boshaftigkeit. Es will das Leben lernen, es ausprobieren. Noch sind die Bezugssysteme innerhalb der Familie überschaubar; das Kind wird mit einer abschätzbaren Vielfalt von Verhaltensmodellen konfrontiert. Das spätere Leben außerhalb der schützenden Familie bringt dann wirkliche Vielfalt. Damit muß das Kind oder der Jugendliche umgehen können.

Lebenseinigung oder mit dem Leben eins werden (Mensch und Natur und die alles verbindenden Kraft - Gott), war für Fröbel die Sozialisation. Die Grundbedingung für eine optimale Vorbereitung auf die zukünftige Tätigkeit als Erwachsener sah er im Kinderspiel und im Erziehungsstil der Eltern des Kindes.

"Wie nun die Bestimmung des Kindes als solchen darin besteht, das Wesen der Eltern, des Vaters und der Mutter, Väterliches und Mütterliches, Geistiges und Gemütliches - welches nur der Anlage und der Stärke nach ihnen beiden selbst unbekannt und ungeahnt in ihnen liegen kann - in übereinstimmung und Einklang zu entwickeln und auszubilden, . . . " 4)

Fröbel sieht die Welt in Gliedern, die ein Ganzes bilden. ändert sich ein System, ein Ganzes, wird dies auch eine Veränderung seiner Glieder nach sich ziehen.

"Wie die Bestimmung eines Kindes als Familienglied darin besteht, das Wesen der Familie, die geistigen Anlagen und Kräfte derselben in ihrer übereinstimmung, Allseitigkeit und Klarheit zu entwickeln und darzustellen, so besteht die Bestimmung und der Beruf des Menschen als Glied der Menschheit darin: das Wesen, die Kräfte und Anlagen der gesamten Menschheit zu entwickeln, auszubilden und darzustellen." 5)

Die Gemeinschaft lebt in und nach bestimmten Gesetzen, "welches überall herrscht und gebietet". Ein System von Normen regelt das Zusammenleben. Anfangs hat das System Familie die Aufgabe, dem Kind diese zu vermitteln und dabei soziale Fertigkeiten zu entwickeln, die zu Handlungsautomatismen werden und die Bewe- gungsfreiheit in der sozialen Gemeinschaft optimieren. Je besser ein Mensch die Regeln des Zusammenlebens, die Normen kennt, desto freier wird er sein. Die soziale Fertigkeit wird ihn befähigen, nicht ständig über für ihn unverständliche Reaktionsweisen der anderen nachdenken zu müssen. Ständiges Gegenreagieren ist an einen Verbrauch psychischer Energie gebunden, die z. B. für ein konzentriertes Arbeiten verloren geht.

Wir können an unserer Keilhauer Schule immer wieder dieses Phänomen beobachten, wenn Kinder aus sozial schwachen Elternhäusern zu uns kommen, in denen "Gesetzlosigkeit" herrscht. Diese Kinder sind nicht reizoffen im Sinne oder als Folge einer hirnorganischen Dysfunktion, sondern weil sie keine angemessenen Verhaltensmodelle und - strategien kennen, auf vermeintliche Angriffe zu reagieren. Sie sehen jede mißerfolgsverheißende Handlung anderer als Erniedrigung ihrer Persönlichkeit an. Gerade die Randgruppen zeigen uns heute das beste Beispiel, wie Kinder und Jugendliche durch mangelnde Betreuung im Elternhaus und oft distanzierende Methoden in den Schulen hilflos werden können, wie soziales Lernen ineffektiv oder behindert wird.

"Ist nun dem Kinde dieses unglückselige Gefühl gleichsam eingeimpft, so ist es auch der Eigensinn, der erste und häßlichste aller Fehler, erzeugt, ja schon geboren der Fehler, der das Kind und die Umgebung zu vernichten droht, und welcher ohne Beschädigung einer andern bessern Anlage im Menschen kaum zu verbannen ist, und er wird bald die Mutter der Verstellung, der Lüge, des Trotzes, der Halsstarrigkeit und aller spätern so traurigen als häßlichen Fehler." 6)

Viele Schüler an der Keilhauer Schule leiden unter Anpassungs- und Orientierungsstörungen in der Gemeinschaft, oft das Resultat (Ergebnis der Anamnesen) verwöhnender Erziehung aus alleinerziehenden Elternhäusern (Jungen sind oft Ersatz für den verlorenen Mann) oder brutaler Erziehung, aber auch überzogen forderndernder Erziehung (Eltern spüren eine Andersartigkeit ihres Kindes oder meinen es zu spüren und wollen dies vor ihrer sozialen Umgebung nicht aufkommen lassen). Dann sind Verhaltensweisen wie Dazwischenrufen, Umherlaufen oder anderes Störverhalten zu beobachten. Diese sind jedoch für das Grundschulalter noch als normal anzusehen. Fröbel erklärte dazu, daß das Dazwischenreden als ein Empfinden für die alterstypisch noch mangelhaft ausgeprägte Merkfähigkeit zu bewerten ist. Die Kinder haben bereits früher erlebt, wenn sie schon etwas den Erwachsenen mitteilen können, dieses durch Störanfälligkeit auf Außenreize schnell wieder vergessen. Viele Erwachsene, vor allem auch Lehrer und Erzieher, deuten dieses Verhalten als einen Angriff auf ihre Autorität und zwingen das Kind zum Schweigen. Andererseits ist dieses Beispiel für angeblich inadäquates Kindesverhalten auch ein Ergebnis mangelnder Normvermittlung und Gewöhnung an asymmetrische Kommunikation. Ich hebe dieses Verhalten deshalb hervor, weil es an unserer Einrichtung besonders stark auftritt, selbst bei Kindern im Regelschulbereich, die schon länger als drei Jahre hier wohnen und unsere Norm kennen.

Nach Fröbel ist Spiel auch Erkenntnistätigkeit. Wird diese durch unangepaßte Spielformen oder Verhinderung des Spiels unterbunden, kann man schlußfolgern, daß ein Inelligenz- oder Motivationsdefizit entsteht. Dann könnte man weiter den Schluß ziehen: Frustrationstoleranz ist abhängig vom Intelligenzniveau des Kindes bzw. des Jugendlichen. Diese Kausalität kann auch unmittelbar mit der Beherrschung der Sprache in Vebindung gebracht werden. So kann mangelde Wortverfügbarkeit, mangelnde Argumentationsfähigkeit zu Verzweiflungshandlungen führen und zur offenen Aggression. Dieses Phänomen können wir vor allem an unseren in der Sprache, im Redefluß behinderten Kindern beobachten.

LEWIN konzipierte 1946 das Dasein des Menschen als ökologisch; dieser wisse nicht nur über seine Existenz in einer Umwelt mit unterschiedlichsten Strukturen, sondern es ist ihm auch möglich, in ihr zu handeln, und zwar individuell spezifisch.

"Im Kreise der menschlichen Erfahrung und Anschauung finden sich dies darstellende und klarmachende Erfahrungen weit mehr als dazu nötig sind; denn die Idee, der lebendig gestaltete Gedanke, welchen der Mensch in irgendeinem außer sich hinstellt, . . . ; dieser Gedanke gehört in dieser eigentümlichen Form nur diesem Menschen an . . .

. . . ; denn jeder Mensch hat eigentlich nur einen einzigen, ihm ganz besonders und vorwaltend eigentümlich angehörigen, eigenen Gedanken, gleichsam einen Grundgedanken seines ganzen Wesens, den Grundton seines Lebensstückes, den er nur durch tausend andere Gedanken, durch all sein Tun klarzumachen und darzustellen strebt; . . . " 7)

Die Wirklichkeit wird durch die individuelle Besonderheit des Menschen, die er durch das "Wesen des Vaters in Eigentümlichkeit ausspricht", aber wiederum durch seine eigene neue Eigenheit sich darstellt, "vom Leben und Sein der Mutter abgeändert . . .". Die Entwicklung der Erfahrung oder des Gedankens sieht Fröbel akkumulierend, aber auch, wie PIAGET 8) später darstellt; assimilierend, einsaugend.

"Der Mensch auf dieser Stufe (Säugling - W.A.) nimmt nur die Mannigfaltigkeit von außen auf und in sich ein, er, der Mensch, saugt, sein ganzes Wesen ist hier nur aneignenedes Auge."

Durch sein Tun entäußert der Mensch seine Gedanken. Seine Ideen spiegeln sich in der von ihm gestalteten, aber auch in der von der Natur hervorgebrachten Umwelt wieder; letzteres, indem sogar in Naturgegenstände seine Vorstellungen projiziert werden (Verehrung verschiedener Naturerscheinungen).

Gerade in unserer heutigen Zeit beeinflußt materielles Denken die Entwicklung der Kinder, aber auch die Einstellungen der Eltern. Daß der Mensch denkend tätig werden muß und zur Erkenntnis strebt, zeigt sich vielleicht an ganz einfachen Vorgängen im gesellschaftlichen Leben. Menschen, die ihre berufliche Tätigkeit nicht befriedigt oder die arbeitslos geworden sind, suchen sich Ersatzbeschäftigungen und können durchaus auch zu nennenswerten Ergebnissen damit kommen. Andererseits gibt es aber auch welche, die nicht dazu fähig sind, sich selbst zu beschäftigen. Die Ursachen dafür sind meiner Meinung nach im Sozialisationsprozeß, oder wie Fröbel sagen würde, in der Lebenseinigung zu suchen. Das Beispiel der Eltern und das Angebot der anregenden dinglichen Umwelt spielen in der Entwicklung des Kindes eine wesentliche Rolle.

Die Kinder und Jugendlichen sind zwar heute ebenfalls in die Gemeinschaft eingefügt, aber ein Großteil kann durch mangelndes Normenwissen sich nicht mehr adäquat verhalten. Daß Jugend immer anders war als die anderen Generationen, stellten schon die alten ägypter fest. Bloß hatte in den Gesellschaften vor uns das soziale Lernen noch einen anderen Wert, die Vermittlung von Moralnormen wurde intensiver betrieben. Heute wird auch sehr stark und auffällig durch die Medien Einfluß auf die Sozialisation unserer Kinder genommen. über Fernsehen oder Trivialliteratur werden Lebensweisen vorgespielt, die ohne Lernen und Arbeiten erreichbar seien. Es geht nicht mehr um Moralvermittlung, sondern um Einschaltquoten und Auflagenziffern. Und hier bedient man sich der Psychologie der Schwäche des Menschen, den Erwartungshaltungen und Restphantasien. So wie es eine Suchtberatung gibt, sollte es auch eine Medienberatung geben und zwar schon in der Schule

Anmerkungen

1) Fr. Fröbel: Ein Ganzes von Spiel- und Beschäftigungskästen für Kindheit und Jugend, Keilhau 1838, in: Fr. Fröbel: Ausgewählte Schriften, Hrg. H. Heiland, Stuttgart 1982, Bd. 3, S. 36

2) ebd. S.36

3) Fr.Fröbel: Die Menschenerziehung, Keilhau 1826, in: Friedrich Fröbel, "Kommt laßt uns unsern Kindern leben!" , Bd. II, Hrg. K.- H. Günther u. H.König, Berlin 1982, S. 79

4) ebd. S. 23

5) ebd. S. 23

6) Fr.Fröbel: Die Menschenerziehung, Keilhau 1826, in: Friedrich Fröbel, "Kommt laßt uns unsern Kindern leben!" , Bd. II, Hrg. K.- H. Günther u. H.König, Berlin 1982, S. 25

7) Fr: Fröbel: Die Menschenerziehung, 1826, in: Fr. Fröbel: "Kommt, laßt uns unsern Kindern leben!", Bd. II, 1982, S. 83

8) J: Piaget: Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde, Studienausgabe Bd. I, Stuttgart 1991, S. 414

9) Fr.Fröbel: Die Menschenerziehung, Keilhau 1826, in: Friedrich Fröbel, "Kommt laßt uns unsern Kindern leben!", Bd. II, Hrg. K.- H. Günther u. H.König, Volk und Wissen Verlag Berlin 1982, S. 26