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Themenschwerpunkt Anthroposophie  

BERLINER DIALOG 29, Juli 2006
BÜCHER & MEDIEN

Die Rezension
von Jan Badewien

Zur Frage der Christlichkeit der Christengemeinschaft. Beiträge zur Diskussion, herausgegeben vom Evangelischen Oberkirchenrat Stuttgart, Markstein Verlag Stuttgart 2004.

Ein wunderliches Buch legt der Evangelische Oberkirchenrat aus Stuttgart vor. Es enthält den Bericht einer Arbeitsgruppe von EZW/Ev. Bund und Vertretern der Christengemeinschaft (CG) von 1993, den Aufsatz von Joachim Ringleben "Über die Christlichkeit der heutigen Christengemeinschaft", erstmals erschienen in der ZThK 93, 1996, S.257-283 (siehe Seite 12 in diesem Berliner Dialog). Den Hauptteil aber, um dessentwillen das ganze Buch entstanden ist, bildet ein ca 90 Seiten langer Text zweier Vertreter der Christengemeinschaft (Hellmuth Haug und Arnold Suckau, im Buch selbst abgekürzt als HuS, was hier übernommen wird). Suckau ist Pfarrer der CG, Haug hat evangelische Theologie studiert und hat bis zu seiner Pensionierung am Deutschen Bibelwerk in Stuttgart gearbeitet. In dieser Zeit hat er bereits unter dem Pseudonym "Andreas Binder" ein Buch zur Frage "Wie christlich ist die Anthroposophie" veröffentlicht (1989) - auf dass HuS immer wieder Bezug nehmen. Hinzu kommen Stellungnahmen von Hartmut Rosenau, vom Arbeitskreis "Anthroposophie und Ev. Kirche" in Württemberg und vom dortigen "Beirat für Weltanschauungsfragen".

Die folgende Rezension gilt vor allem der Ausarbeitung von HuS: "Zur Frage der 'Christlichkeit' der Christengemeinschaft - Theologische Selbstdarstellung unter Berücksichtigung ihrer Beziehung zur Anthroposophie". Diese Titulatur ("Selbstdarstellung") rechtfertigt wohl auch aus Sicht der Verfasser, Haug als Repräsentanten der CG zu verstehen, auch wenn er sich selbst immer wieder als 'evangelischen Theologen' bezeichnet.
Der umfangreiche Text von HuS ist für das Selbstverständnis der gegenwärtigen CG von großer Bedeutung. Meines Wissens gibt es in den letzten Jahrzehnten keinen zweiten Text, der so detailliert CG und Anthroposophie verbindet und damit die immer wiederholte Behauptung, die CG sei unabhängig von der Anthroposophie zu verstehen, ad absurdum führt. Wer bislang an der dominierenden Rolle der Anthroposophie für Kultus und Gedankenwelt der CG gezweifelt hat, der lese diesen Text! Er lässt schon vom Stil und von der Begrifflichkeit her den ungeheuren Abstand zwischen christlicher Theologie der unterschiedlichsten Provenienz und anthroposophischer Verquastheit erkennen. Offenkundig ist den Autoren überhaupt nicht bewusst, dass ihre Redeweise außerhalb der anthroposophischen Welt kein Verständnis findet und keine Bedeutung hat.
Es überrascht angesichts der oft zu hörenden Betonung einer Selbständigkeit gegenüber den Steinerschen "Erkenntnissen", wie kritiklos und selbstverständlich HuS mit ihnen argumentieren. Im ganzen Text gibt es kein einziges kritisches Wort gegen Rudolf Steiner, er wird interpretiert, aber als Offenbarungsquelle respektiert.
Trotz der offenkundigen Differenz christlichen und anthroposophischen Gottesverständnisses weisen HuS die Kritik an den vielen neutrischen Gottesbezeichnungen Steiners ab: es gebe bei ihm positive und persönliche Ansprache Gottes, z.B. als "großer umfassender Geist", "Gotteswesen", "väterlicher Weltengrund". Die theologischen Einwände gegen solche Begriffe meinen HuS zu entkräften, indem sie auf die zahlreichen Zwischenwesen verweisen: die "dienenden Geister" seien personal und Gott sei nicht weniger als sie. Und dann reflektieren sie: "Wird nicht viel zu oft gedankenlos von der 'Unmittelbarkeit des Menschen zu Gott' gesprochen? Ist es so unberechtigt, wenn Steiner urteilt, dass das naive, ungeklärte Verlangen nach solcher Unmittelbarkeit in Wirklichkeit auf den Engel trifft? Und was wäre denn nach Lage der Dinge schlimm daran, so gewiss sich der eine Gott eben auch im Engel personhaft manifestiert?" (S. 59). Hier wird wohl kaum das biblisch-christliche Gottesverständnis getroffen.
Ganz selbstverständlich übernehmen HuS den Anspruch Steiners, "Mitteilungen aus unmittelbarer Schau" zu machen (S. 60). So setzt seine "Schau" ein "mit dem Geschehen innerhalb der Dreiheit der obersten Hierarchie, das aktiv als Opfertat, passiv als 'Ausfließen' der Gottheit erscheint: Die 'Throne' (3. Rang der 1. Hierarchie) opfern ihren Willen den über ihnen stehenden Cherubim und Seraphim und schaffen mit diesem Opfer die willenshafte Grundsubstanz des daraufhin von den nachgeordneten Hierarchien weiter zu entfaltenden Kosmos. Mit diesem ‚großen kosmischen Opferdienst' ist dasselbe gemeint, was Rittelmeyer andeutet, wenn er vom 'Gottesopfer' spricht, in dem 'der Vatergott in alle Dinge hineingestorben ist'. Denn hier muss genau unterschieden werden: Der 'Vatergott' ist in dieser Aussage nicht etwa die 1. Person der Trinität als der 'höchsten Gottheit', sondern eine zusammenfassende Bezeichnung für die 'Väter in den Himmeln', nämlich die Engel der 1. Hierarchie" (S. 60). Ein Nicht-Anthroposoph kann ob solcher Passagen, wie sie hier einmal exemplarisch zitiert sind, nur den Kopf schütten. Doch die Konklusio von HuS nach mehreren Seiten: "Wir ziehen das Fazit: Steiners evolutionäre Kosmogonie hat theologisch gesehen den Charakter einer echten Schöpfungslehre" (S.69). Der Blick für die Außenwelt jenseits der Gültigkeit Steinerscher Spekulationen ist völlig verloren gegangen.
In diesem Stil geht es weiter, ca. 90 Seiten lang! Es wird nichts ausgelassen, was Steiner zu biblisch-theologischen Fragen sagt: die zwei Jesusknaben kommen vor (S.77ff) mit allen Merkwürdigkeiten: "Zum Zeitpunkt der Geschlechtsreife tritt das Zarathustra-Ich aus dem salomonischen in den nathanischen Jesus über, um diese kostbare 'Menschensubstanz' zur vollmenschlichen Entfaltung zu führen" (S.79), die strikte Trennung von Christus-Wesenheit und Jesus-Mensch (die ja auch im Glaubensbekenntnis der CG formuliert ist, wo "der Sohn der Maria" als "Hülle des Christus" bezeichnet wird, hier abgedruckt auf S.137) bis hin zur "Krishna-Inkarnation der Jesus-Seele", die Paulus vor Damaskus erschienen sei.
Auch die Frage nach dem Offenbarungscharakter der Anthroposophie behandeln HuS: es darf "nicht prinzipiell ... in Abrede gestellt werden, dass es sich bei den Erkenntnissen der Steinerschen Geistesforschung um echte 'Offenbarungen' handeln kann" und sie zitieren Steiner: "Deshalb dürfen wir dasjenige, was er (Christus, J.B.) als Anthroposophie offenbart, als eine wirkliche Christus-Offenbarung aufnehmen" (S.113). Und HuS nehmen das so auf und verstehen Steiners "Offenbarung" als "Erkenntniszuwachs". Diese Aussage ist wichtig, wurde doch bislang Steiners Rolle als "Offenbarer" innerhalb der CG nur auf die Abfassung der Kult-Texte beschränkt!

Ein solcher "Erkenntniszuwachs" wird z.B. in der Frage der Reinkarnation gesehen: es müsste "die Vorstellung eines einmaligen Sterbens und Auferstehens jedes menschlichen Individuums revidiert werden können, wenn sich der Gedanke der Reinkarnation als weltbildlicher Konsens herausbilden sollte, wofür einiges spricht…."
"So wie der Reinkarnationsgedanke in der Anthroposophie verstanden ist, in deutlicher Abhebung von seiner östlich-weltflüchtigen Deutung, gibt es dagegen keine triftigen Einwendungen; selbst das Karmagesetz ist in der ihm von Steiner gegebenen Fassung mit dem gemeinchristlichen und vielleicht sogar dem reformatorischen Gnadenbegriff ... vereinbar" (S.115).
Kein Wunder, dass die Ausführungen Steiners zur Gnade "kongenial" "den Nerv der paulinischen Rechtfertigungslehre" treffen (S.124). Die Bewunderung für den Erfinder der Anthroposophie kennt also auch bei den Vertretern der CG kaum Grenzen!
Allerdings schleichen sich bei HuS leichte Zweifel ein, ob ihre Steiner-Interpretation, in der sie alles menschliche Handeln der Gnade unterwerfen, von anderen Anthroposophen akzeptiert werden könne. Sie bemerken selbst, dass es viele Steiner-Texte gibt, die eine andere Sprache sprechen und das Handeln des Menschen im Erlösungsgeschehen, das ein Entwick(e)lungsgeschehen ist, hervorheben. Aber: "Steiners Anthroposophie ist unzweifelhaft für unsere Deutung offen" (S.129). Doch ein evangelischer oder katholischer Theologe muss bezweifeln, dass biblische Soteriologie mit all ihren Varianten für solche Deutung offen ist!
Das Fazit von HuS: "Die Anthroposophie steht dem bloßen Wortlaut nach mit vielen ihrer Aussagen im Widerspruch zur traditionellen kirchlichen Theologie. Vergleicht man beide Größen nicht punktuell, sondern mit Rücksicht auf den jeweiligen Gesamtzusammenhang (das 'Paradigma'), so ergibt sich gleichwohl eine tiefe Übereinstimmung" (S.129).
Der Rezensent kann sich hier nur wundern und versteht nicht, wo HuS den Mut zu solchen Behauptungen hernehmen. Ein gewaltiger Abgrund klafft zwischen ihren Schlussfolgerungen und den Zitaten bzw. Darstellungen Steiners. Und ein weiterer Abgrund tut sich auf zwischen Steiner bzw HuS und der Bibel sowie den vielen theologischen Ansätzen der Kirchen. Vielleicht wäre es hilfreich, HuS und die anderen Vertreter der CG würden sich einmal fragen, welche weltanschaulichen (kosmosophischen, christosophischen, theosophischen) Voraussetzungen ein Christ leisten müsste um in solch weithin absurden Texten etwas zu finden, was er mit der Bibel zusammenbringen könnte..
Die kritisch kommentierenden Texte von Hartmut Rosenau und vom "Weltanschauungsbeirat" der Landeskirche zeigen denn auch deutlich ihre Zweifel, ob die Ausführungen von HuS weiterführen. Rosenau sieht, dass die Möglichkeiten für eine Annäherung von CG und den Kirchen eingeschränkt werden durch das Fehlen einer verbindlichen Theologie (S. 140) der CG und den "unklaren Status der Anthroposophie" (S.141) - wobei der in den Ausführungen von HuS erschreckend deutlich hervorgetreten ist. Rosenau rät zur Aufnahme von offiziellen Gesprächen erst dann, wenn diese Unklarheiten beseitigt werden können (S.143).
Der Weltanschauungsbeirat hat der Landeskirche von der Publikation der Arbeit von HuS abgeraten. Der Rezensent kann diese Einschätzung verstehen. Er sieht nicht, wie dadurch das Gespräch erleichtert werden könnte. Das Verdienst besteht eher darin, dass tiefe Differenzen hervorgetreten sind - in den sachlichen Fragen, aber auch in nicht zu unterschätzender Weise in Stil und Denkform.
Sollte der Ev. Oberkirchenrat der Württembergischen Kirche das beabsichtigt haben, ist es ein weitsichtig geplantes und gelungenes Unterfangen. Sollte er aber tatsächlich der Meinung sein, eine Grundlage für einen neuen (bzw. fortgeführten) Dialog geschaffen zu haben damit "auch vor Ort Gespräche über konkrete Beziehungsmöglichkeiten geführt werden" (so die Einleitung S.7), dann kann das nur mit Verwunderung konstatiert werden.
So ist wohl das größte Verdienst dieser Veröffentlichung, dass der hervorragende Aufsatz von Joachim Ringleben von 1996: "Über die Christlichkeit der heutigen Christengemeinschaft" mit seiner klaren und bis heute nicht widerlegten, sondern bestätigten kritischen Analyse noch einmal abgedruckt und damit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist.*

Erstveröffentlichung in: Materialdienst der Ev. Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, 2005/1, S.33-36.
Die Redaktion des Berliner Dialog bedankt sich bei der Redaktion des Materialdienst der EZW für die freundlicherweise erteilte Abdruckerlaubnis.

* Diesen Aufsatz von Joachim Ringleben dokumentieren wir ungekürzt in diesem Themenheft des Berliner Dialog auf den Seiten 12-22. - Red

Die andere Rezension
"…Das kürzlich im Markstein-Verlag vom Evangelischen Oberkirchenrat in Baden Württemberg veröffentlichte Buch mit dem Titel »Zur Frage der Christlichkeit der Christengemeinschaft - Beiträge zur Diskussion« ist nicht allein vor diesem Hintergrund äußerst lesenswert. Wenn man den Titel genau nimmt, dann verspricht er, dass hier nicht einfach die Christlichkeit der Christengemeinschaft diskutiert wird, sondern dass viel grundsätzlicher diese Frage selbst, also das Fragen nach der Christlichkeit zum Thema wird. Das geschieht nun zwar doch nicht ausdrücklich, aber letztlich auf eine gewichtige unausdrückliche Weise, nämlich durch die Tatsache dieser ganz und gar ungewöhnlichen Veröffentlichung. Es handelt sich um sechs Artikel, die sich um einen in ihrer Mitte stehenden und schon durch seinen Umfang als Herzstück des Buches ersichtlichen siebenten Aufsatz gruppieren. Dieser Aufsatz ist eine hauptsächlich von dem evangelischen Theologen, Anthroposophen und Christengemeinschaftsmitglied Hellmut Haug in Co-Autorschaft mit dem Christengemeinschaftspriester Arnold Suckau verfasste Selbstdarstellung der Christengemeinschaft, soweit diese ihre besonderen theologischen Inhalte der Anthroposophie verdankt.
Mit anderen Worten: Was hier vorliegt ist umfangmäßig zum größten Teil eine anthroposophisch-christengemeinschaftliche Darstellung, die mit den Mitteln der evangelischen Landeskirche gedruckt wurde. …"

Jörg Ewertowski: "Auf dem Prüfstand der Christlichkeit? Christengemeinschaft und Anthroposophie aus evangelisch-theologischer Sicht" in: die Drei 12/2004; Forum Anthroposophie S.53f. auch im Internet unter:
http://www.diedrei.org/Heft%2012%2004/11%20Forum%20Anthroposophie.pdf


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